Etwa acht Meter östlich vom alten Friedhofswärterhaus am jüdischen Friedhof Kriegshaber befindet sich ein Grabplatz, der bis in die 1990er Jahre mit einem hölzernen Grabmal versehen war. Dieses wurde im Frühsommer des Jahres 1927 von Theo Harburger fotografiert und aufgezeichnet. Die hölzerne Platte wurde mit einer Art Vitrine umgeben, um die Tafel vor der Witterung zu schützen. Gemäß einer Bemerkung in seinem unveröffentlicht gebliebenen Abhandlung über die „Geschichte der Juden in Kriegshaber“ (sein Nachlass befindet sich im Augsburger Stadtarchiv) aus dem Jahre 1934, soll dies auf Veranlassung des Heimatforschers Luis Dürrwanger (1878-1959) geschehen sein. Da das Schriftstück jedoch auch in der Nachkriegszeit noch mehrmals überarbeitet wurde, muss sich die Information nicht zwangsläufig auf die Jahreszahl 1935 beziehen. Erinnerungen aus den Reihen der früheren Friedhofswärter-Familie Felber jedenfalls verbürgen, dass die Grabplatte zumindest seit den frühen 1950er Jahren mit dem Gehäuse umgeben war. Im Laufe der Zeit brach dessen Glas jedoch an zahlreichen Stellen und die Umrandung begann zu rosten, so dass sich der Effekt ins Gegenteil kehrte und durch Kondenswasser und Rost der Verfall der Holzplatte erheblich beschleunigte. Frau Agnes Maria Schilling veranlasste deshalb, dass das verfallende Denkmal im Haus der Friedhofswärter untergestellt wurde, danach gelangte es ins 1985 entstandene „Jüdische Kultusmuseum Augsburg Schwaben“ im Gebäude der Augsburger Synagoge, Halderstr. 6-8. Dort ist die mittlerweile völlig unleserliche Holzplatte ein vielbeachtetes Ausstellungsstück der Judaica-Exhibition. Der Sockel des Grabplatzes hingegen wuchs in den Folgejahren zu und war deshalb nicht mehr exakt zu lokalisieren. Auch der einstige Glasmetallrahmen ging verloren und so schien die letzte Erinnerung an den Verstorbenen getilgt.
Die beiden Holzgrabplatten am jüdischen Friedhof in Fischach von Josef Moses ben Abraham haLevi (5574/1815), und seiner Frau Brendl (5593/1833) festgehalten von Theo Harburger am 10.02.1927 (CAHJP P160/49), die mittlerweile auch „umglast“ wurden.
Gemäß seinen Aufzeichnung hatte Theo Harburger das hölzerne Grabmal am 12. Mai 1927 fotografiert. Zu dieser Zeit war der neue Friedhofspfleger Hermann Felber Sen. (1894-1956) gerade seit drei Monaten am Kriegshaber Friedhof. Harburger machte insgesamt nur 15 Aufnahmen vom Friedhof, wovon drei Gesamteindrücke und die anderen einzelne Grabdenkmäler porträtieren. Dass er das Holgrabmal in seiner enge Auswahl aufnahm ist nicht weiter verwunderlich, galten solche als sehr rar. Neben zwei weiteren Exemplaren in Fischach gilt die Kriegshaber Holzplatte in der Region auch als einziges erhaltenes hölzernes Grabmal. Harburger zufolge war die Eichenholzplatte 95 cm hoch und 32.5 cm breit. Die Dicke betrug 3 cm. Gewidmet wurde das Denkmal dem Mordechai Sohn des Mordechai aus Kassel, der am 27. Cheschwan 5566 verstarb (nach christlichem Kalender am 19. oder 20. November des Jahres 1805).
Harburgers Fotografie (CAHJP P160/125) zeigt die Holzplatte an ihrem früheren Stellplatz, weshalb im Oktober 2007 der Grabplatz wieder aufgefunden werden konnte. Unter einer Grasnarbe konnte so auch die etwas schräg stehende Nachkriegseinfassung auf welcher das Gehäuse montiert wurde, aufgefunden werden. Das Gehäuse selbst wurde erst im Herbst 2009 bei Gartenarbeiten entlang der nordöstlichen Mauer unter üppigen Wildwuchs wieder entdeckt. Der charakteristische Baum an der nordöstlichen Ecke des Hauses, bereits 1927 zu sehen, ist inzwischen zur stattlichen Größe herangewachsen.
Das Bild von Theo Harburger zeigt eine damals noch einwandfrei lesbare Inschrift, was erstaunlich ist, wenn die Holzplatte zu dieser Zeit bereits 120 Jahre alt sein soll. Entsprechend einfach ist es deshalb natürlich auch die dort abgebildete Inschrift zu lesen und wiederzugeben:
Übersetzt heißt sie: „Hier ist begraben der Heilige, Herr Mordechai Sohn des Herrn Mordechai seligen Angedenkens aus Kassel am Tag 3, 27 Marcheschwan 566 nach kleiner Zählung.“
Das erfordert eine Reihe von Erklärungen und wie so oft, führt dies zu einem Bündel weiterer Fragen. Die Bezeichnung הקדוש (ha‘kadosch), wörtlich „der Heilige“ bezieht sich in der Regel auf eine Person, die starb um den Namen Gottes zu heiligen: קדוש השם (kidusch ha‘schem). Sinngemäß leitet sich dies vom Gebot der Thora ab, den Namen Gottes zu heiligen (3. Moses 22:32) und im daraus abgeleiteten Umkehrschluss, Gottes Name nicht zu entweihen (chillul ha’schem). Der Überlieferung gemäß gibt es drei Gebote, bei denen die eigene Lebensrettung nicht vorrangig ist:
Götzendienst, verbotene sexuelle Akte (etwa Inzest oder Ehebruch), Mord
In der sefardischen Tradition des Judentums bezeichnet man die Juden Portugals und Spaniens, die den Tod der Zwangstaufe vorzogen als „Heilige“. Analog dazu bezeichnet man heute auch die Opfer des Holocausts als „kedoschim“, ganz unabhängig davon, dass sich ihnen in der Regel die Frage nach einer Konversion, etc. gar nicht stellte. Begrifflich entspricht dies in etwa dem christlichen Terminus eines Märtyrers. Wie nun auch immer, legt die Bezeichnung des Bestatteten als „Heiligen“ nahe, dass er gewaltsam ums Leben kam. Der zeitgeschichtliche Kontext des Sterbedatums gibt für solche Deutungen jede Menge an Möglichkeiten.
Im Würzburger Abkommen vom September 1805 hatten Frankreich und Bayern im Vorfeld verabredet, dass das bayerische Herzogtum bei einem Sieg der Verbündeten, Augsburg und die vorderösterreichische Marktgrafschaft Burgau zugeschlagen bekäme. Erst am 9. Oktober 1805 wurde die Freie Reichsstadt Augsburg trotz mehrfach erklärter Souveränität und Neutralität von anrückenden französischen Soldaten besetzt. Am Folgetag ritt der französische Feldherr und Kaiser Napoleon Bonaparte Höchstselbst durch das Wertachbrucker Tor in die Stadt und verweilte dort, vom Augsburger Bischof und von den Stadtherren empfangen zwei Tage und Nächte im Hotel Drei Mohren in der Maximilian Straße. Berühmt ist die Überlieferung, dass Napoleon den um ihre Souveränität bangenden Stadtherren beim Anblick des schlechten Straßenpflasters gesagt haben soll, die Stadt bedürfe eines Fürsten. Der an Weihnachten geschlossene Frieden von Pressburg regelte die Augsburger Frage endgültig im bayerischen Sinne. Bis zu dieser Zeit war die Stadt und Umgebung von französischen Truppen besetzt, ehe nun bayerische nachrückten. Wenige Tage später, am 1. Januar 1806 wurde Bayern sogleich auch Königreich und der bisherige Kurfürst König.
Der Todeszeitpunkt Mordechais am 19./20. November fällt demnach in eine geschichtsträchtige Zäsur, zugleich aber auch ungewisse Übergangszeit, in der das Gebiet der bisherigen Freien Reichsstadt und seiner westlichen burgauischen Vororte von französischem Militär besetzt war. Interessant in diesem Zusammenhang dürfte sein, dass die in Kriegshaber und hernach in Augsburg ansässige Familie des Veit Kaula und sein Partner Jakob Obermayer Heereslieferanten (unter anderem für Säbel und Gewehre) waren, pikanterweise sowohl für die österreichische wie auch bayerische Seite. Jakob Obermayer wohnte seit 1803 in Augsburg. Mit ihm hatten auch die in München ansässigen Lieferanten Westheimer und Straßburger sowie der Pferseer Gemeindevorsitzende Henle Ephraim Ulman (seit längerer Zeit bereits auch ein Finanzier des Augsburger Bischofs) gegen die Gewährung hoher Darlehen, die Augsburgs Unabhängigkeit gewährleisten sollten, das Wohnrecht in der Stadt erhalten.
Als zusätzlicher Faktor kommt demnach, was die jüdischen Gemeinden von Kriegshaber, Steppach und Pfersee wie auch die wenigen aus diesen Gemeinden stammenden Juden in Augsburg betrifft , eine mehr oder minder vielschichtige Interessenslage hinzu, die ein Licht auf die Todesumstände des Mordechai werfen könnten. Eine jüdische Besonderheit ist das freilich nicht. Kaum war bekannt geworden, dass die Franzosen sich Augsburg näherten, hing der christliche Finanzrat der Reichsstadt Johann von Schaezler ganz unverhohlen aus dem Palais seines Schwiegervaters Liebert in der Maximilianstraße in lateinischer Sprache einen weithin sichtbaren und vor allem opportunistischen Willkommensgruß an den nahenden Herren: „pacem qui dedit, patrem nobis dedit“. Dass er zumindest am Vortag als Mitglied der Stadtregierung noch alle Bemühungen der Bewahrung der städtischen Neutralität und Souveränität widmete, war offenbar sehr rasch vergessen und längst kein Thema mehr, als im Februar 1806 unter der Führung von Schaezler eine Delegation Augsburger Bankiers und Kaufleute nach München reiste, um dem frisch gekrönten ersten bayerischen König die Referenz zu erweisen.
Die Inschrift der Grabplatte erschwert aber zunächst die Identifizierung des „Heiligen“. Die Namensangabe des Toten lautet: ל“ז – מרדכי בן מרדכי . Dem zweiten, väterlichen Mordechai folgt in der Inschrift das Kürzel ל“ ז, welches ein seliges Gedenken ausdrückt. Da die Grabplatte an sich schon dem Zweck des Gedenkens an einen Toten erfüllt, bezieht sich eine solche zusätzliche Erwähnung in aller Regel auf den Umstand, dass der Vater des Verstorbenen bereits vorher verstorben ist. Die Namensgebung an sich ist ungewöhnlich, da es bei aschkenasischen Juden völlig ungebräuchlich ist, dass der Sohn direkt nach dem Vater benannt ist. Allenfalls ein Enkel erhält den Namen des Großvaters, nicht jedoch der Sohn. Anders verhält es sich jedoch bei sephardischen Juden, bei denen die Sitte, dem Sohn den Namen des Vaters zu geben, vielfach belegt ist. Sollte der Name auf der Grabplatte also nicht auf falschen Informationen beruhen – wir wissen nicht, wie bekannt der Verstorbene in Augsburg, Pfersee oder Kriegshaber war – so müssten wir den Toten als einen sephardischen Juden auffassen. Als solcher wäre er zweifellos höchst ungewöhnlich. Noch erstaunlicher in dieser Weise ist freilich der Zusatz מקסל, den Theo Harburger in seiner handschriftlichen Notiz von 1927 mit einem א versehen als מקאסל berichtigen wollte, um die gängige hebräische Schreibweise des Ortsnamens Kassel (die offiziell gültige deutsche Schreibweise war bis 1926 eigentlich Cassel) wiederzugeben. Der Eintrag in der Inschrift ist aber auch so durch das Präfix מ (von, aus) als „aus Kassel“ zu lesen und zu verstehen. Ein sephardischer Jude aus Kassel ist nun freilich ein Anachronismus, da es dort ebenso wenig eine sephardische Judengemeinde gab wie in Kriegshaber oder Augsburg. Zwar sind Juden in Kassel erstmals im 13. Jahrhundert belegt, um 1720 lebten nur drei jüdische Familien, 1798 bereits 53 in der Stadt, doch von Sepharden fehlt jede Spur. Bis 1772 befand sich das Kasseler Rabbinat (der Landgrafschaft Hessen) im Exil im benachbarten Witzenhausen, da die in Kassel dominierende jüdische Familie Goldschmidt keine (jüdische) Konkurrenz am Ort duldete und entsprechende Regelungen mit ihren fürstlichen Herren traf. Zwar finden sich am Friedhof von Witzenhausen auch ältere Grabsteine und einige gehören einem Mordechai oder dem Sohn eines Mordechais, aber keine der erhaltenen Inschriften deutet auf einen Sepharden. Das ist auch in Kassel und in der sonstigen Umgebung nicht anders. Die Kasseler Familie Goldschmidt hat jedoch in Frankfurt am Main einen Seitenzweig der Goldschmidt-Kassel heißt und eine zeitweilige Präsenz in Kassel namentlich überliefert. Dies eröffnet die nicht auszuschließende Möglichkeit, das in der Inschrift vorhandene קסל trotz des Präfixes nicht als Orts- sondern als Familienname zu verstehen. Die Frankfurter Familie Kassel, wegen ihres Hauses „am Buchsbaum“ auch entsprechend namentlich vertreten, war eine bekannte, einflussreiche Familie von Hoffaktoren aus deren Mitte später das Bankhaus Goldschmidt gegründet wurde. Der Sohn des Bankgründers Chaim von Goldschmidt-Kassel heiratete 1878 Minka, die Tochter des letzten Frankfurter Rothschilds. In Frankfurt ansässig waren jedoch auch Mitglieder der Wertheimer Familie, seit 1769 etwa Zacharias Wertheimer. Sein Onkel Wolf Simon Wertheimer lebte als Hoffaktor in München, wurde aber nach seinem Tod 1765 am jüdischen Friedhof in Pfersee-Kriegshaber begraben, da München erst 1816 einen eigenen Friedhof bekommen sollte. Eine ganze Reihe von Nachkommen Wolf Wertheimers haben sich mit anderen Familien in Pfersee und Kriegshaber, aber auch in München verbunden, etwa mit Ulmanns oder Obermayers. Josef Hirsch (auf Gereuth,1805-1885) etwa heiratete Karoline Wertheimer (1800-1888), die Tochter von Zacharias Wolf Wertheimer (1782-1844). Ihr gemeinsamer Sohn Moritz (Mordechai), bekannt geworden als Maurice de Hirsch (1831-1896) war mit Clara Bischofsheim (1838-1899) verheiratet. Clara wiederum war die Tochter Jonathan Rafael Bischofsheim und Henriette Goldschmidt-Cassel. Zusammen mit Louis Goldschmidt Cassel gründete Jonathan Bischofsheim 1829 das Bankhaus Bischoffsheim-Goldschmidt. Jonathans Vater Rafael dagegen war nun verheiratet mit Helen Cassel. Der Sohn ihres Bruders Jacob Cassel war Ernst Cassel (1852-1921), der im Alter von 17 Jahren nach England auswanderte und zunächst in einer Filiale der Goldschmidt-Bank seiner Verwandten arbeitete, ehe er selbst als Unternehmer erfolgreich wurde, maßgeblich am Ausbau des Eisenbahnnetzes in Amerika und Mexiko beteiligt war und schließlich als Sir Ernest Cassel geadelt wurde. Zuletzt galt er als Förderer des späteren Premierministers Winston Churchill. Der Vater von Jacob und Helen Cassel wiederum war Moses Cassel (1756-1825), der zusammen mit seinem Bruder Baruch ein Geldgeschäft in Köln betrieb. Dieser hatte nun einen 1774/5 geborenen Sohn namens Moritz Mordechai, über den weiter nichts bekannt war. Da Moritz nun aber eine häufige Umschreibung des hebräischen Namens Mordechai ist, könnte es sich hier um den am Kriegshaber Friedhof bestatten Toten handeln. Moritz Mordechai wäre demgemäß eine vorstellbare Erklärung für die Inschrift „Mordechai ben Mordechai“ und würde wie der Zusatz „aus Cassel“ auf einem Missverständnis beruhen. Möglicherweise ist die Platte 1806 aber zeitlich auch um das Purim-Fest formuliert worden …
Die eigentliche Identität des Toten wäre demzufolge also die des „Mordechai ben Baruch Cassel, 1775-1805“. Durch die zahlreich vorhandenen familiären Verbindungen der Cassel und Goldschmidt-Cassel zu Familien in Kriegshaber, Pfersee und München, wäre es auch verständlich, warum unser Mordechai sich überhaupt in der Region aufhielt, da ansonsten nichts dafür spricht, dass er in München oder an einem der Orte der nach über 500 Jahren nun erlöschenden Marktgrafschaft Burgau selbst ansässig war. Wir wissen auch nichts von einer Ehe, die wir in seinem Alter aber vermuten können. Die familiäre Bindung an schwäbische und in München tätige (meist ohnehin aus Pfersee und Kriegshaber stammende) Hoffaktoren und Heereslieferanten hingegen macht es einigermaßen plausibel, dass er sich auch im Zusammenhang mit entsprechenden Geschäften befasste und wahrscheinlich in irgendeiner Weise und Abfolge im Gefolge der französischen Truppenkontingente reiste. Dies gibt freilich noch keinen Aufschluss über die Art seines Todes und verrät auch nicht seinen Sterbeort. Da München bis 1816 über keinen eigenen Friedhof verfügte, kann er durchaus auch dort oder in der Nähe ums Leben gekommen sein. 1812 noch wurde auch Abraham Uhlfelder, als Nachfolger von Wolf Wertheimers Sohn Abraham einer der ersten Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde von München, der dort seit den 1770er Jahren lebte und gleichsam als Heereslieferant tätig war, in Kriegshaber begraben worden. Seine späteren Nachkommen begründeten später in München das Kaufhaus Uhlfelder im Rosental. Als letzten Münchner Juden bestattete man am Kriegshaber Friedhof am 11. September 1815 noch dicht neben Uhlfelder den Gelehrten Loeb Sohn des Meir Gumperts. Der Kreis schließt sich aber, wenn man berücksichtigt, dass der Frankfurter Hauptzweig der Familie Golschmidt-Cassel im Haus Buchsbaum wohnte und deshalb in manchen ihren Zweigen auch den Namen Buchsbaum trug, so wie sich die Familie die in Frankfurt im Haus zum Roten Schild Rotschild nannte. Im Jahre 1560 nämlich wanderte Nathan von Oberhausen an der Wertach nach Frankfurt, heiratete dort Brendle, die Tochter des Buchsbaum-Juden, der für Schimon Ginzburg, dem Stammvater der Ulmo-Günzburg – Sippe arbeitete. Nathan von Oberhausen nannte sich fortan Nathan Buchsbaum und hinterließ bei seinem Tod 1575 ein staatliches Testament mit umfangreichem Inventar (siehe Frankfurter Zeitung vom 13.08.1929). So wir die Cassel-Familie unter seinen Nachfahren finden, was durchaus der Fall sein dürfte, so schließt sich mit dem Abkömmling Mordechai vielleicht ein Kreis, der mit Nathan von Oberhausen begann.
Sollten wir den am Friedhof in Kriegshaber Pfersee bestatteten Mordechai identifiziert haben, so kam er im Alter von ca. 30 Jahren in einer Weise ums Leben, die seine Bestatter dazu veranlasste, ihn als „Heiligen“ zu würdigen. Das mag im zeitlichen Kontext und in der Verbindung mit einer wahrscheinlichen Tätigkeit als Heereslieferant im Umfeld der französischen Besatzung der Markgrafschaft Burgau, Augsburg und Münchens etwas euphemistisch erscheinen, aber die genauen Umstände, wie auch der Ort seines Todes bleiben auch so im Dunkeln. Offensichtlich aber ist die Vermutung, dass ein Holzgrabmal deshalb gewählt wurde, weil der Verstorbene oder die jüdische Gemeinde arm gewesen sei, angesichts des alles andere als unbemittelten Familienhintergrundes und der zahlreichen lokalen Verbindungen, doch eine seltsame Vorstellung. Das im „Jüdischen Kultusmuseum“ ausgestellte, unleserliche Grabmal wurde 1927 von Theo Harburger in einem sehr gut erhaltenen Zustand fotografiert. Sollte es sich aber tatsächlich, was ohne exakte wissenschaftliche Altersbestimmung nicht sicher gesagt werden kann, um eine Platte aus dem Jahr 1806 handeln, wäre sie zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits 121 Jahre alt gewesen.
Anders als die alte, unleserliche Holztafel befindet sich das Grab des Verstorbenen noch immer am Friedhof. Die Position des Grabes ist genau bekannt. Auch die Maße der alten Grabplatte sind bekannt und ebenso die Inschrift, die Harburger 1927 fotografierte. Preise für eine neue Grabtafel halten sich in Grenzen. Materialkosten (hinzu kämen Inschrift, Einfassung, …) für massives Eichenholz belaufen sich aktuellen Internetangeboten aus der Region bei einer Plattenstärke 30 mm in der Größenordnung von 60 € pro m² (gebraucht würden 3 m²). Die Preise für Sandstein sind etwas billiger. Wie das Preisniveau vor 200 Jahren war, ist weit schwieriger zu ermitteln. Aber die Anschauung, dass Holzgrabmäler ein Zeichen von Armut gewesen seien, liefert im Umkehrschluss, dass fast alle erhaltenen Grabmäler auf jüdischen Friedhöfen hierzulande nicht aus Holz, sondern aus Stein sind, dem nicht ganz unbekannten Klischee Vorschub, dass Juden eben reich sind. Reich genug, um nicht arm zu sein. Tatsächlich unterscheiden sich die Preise wohl nicht.
Die Tatsache, dass es kaum Holzgräber gibt, muss nicht mal an einer mangelhaften Witterungsresistenz liegen – bröckeln Sandsteine doch oft auch bereits nach ein paar Jahrzehnten Pflegelosigkeit dahin –Holzgrabmale haben gegenüber steinernen ganz andere Nachteile, die ihre Existenz gefährden. Zum einem können sie anders als Steine verfeuert werden, zum anderen sind sie weit weniger standfest als Steinplatten, die bei einer Höhe von einem Meter schon mal 250 Kilo oder mehr wiegen können und folglich auch leichtens von Dieben zu transportieren. Zwar ist es geläufig, dass Grabsteine immer wieder mal als Baumaterial missbraucht wurden, aber die Verfeuerung erfordert keine Bauvorhaben, sondern lediglich einen kalten Winter und hinterlässt für den Dieb günstiger weise auch keine Spuren. In dieser Weise ist, klar, dass man in der Regel Steine bevorzugte, nicht aus finanziellen Motiven, sondern aus Gründen der Standortsicherheit.
Ein Sprichwort sagt: „Verrottetes Holz kann man nicht schnitzen“, ein anderer Ausdruck jedoch betont positiv, dass etwas oder jemand „aus dem selben Holz geschnitzt“ ist. Als JHVA setzen wir uns deshalb dafür ein, dass die Erinnerung an die Toten bewahrt bleibt und Erinnerungstafeln existierenden Gräbern nicht ersatzlos Trophäe von Museen werden.
“Juden und Jüdisches auf gut Deutsch gesagt”
January 8, 2010März 2017: Ausführlicher beschrieben im Buch:
Yehuda Shenef
Humor, Wucher, Weltverschwörung: Die geläufigsten Vorurteile gegenüber Juden und was es mit diesen auf sich hat
ISBN: 978-374-3181-205
Taschenbuch: 260 Seiten
13 Euro
Die aus einer calvinistischen Familie aus Hanau stammenden Brüder Jacob Grimm (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859), heute eher durch ihre Kinder- und Hausmärchen-Sammlung (1812-1815) berühmt, begannen das Deutsche Wörterbuch (DWB) bereits 1838. Über zwanzig Jahre lang sammelten sie an der Berliner Friedrich-Wilhelms Universität Material. Der erste Band erschien 1854. Nach ihrem Tod (beide sind nebeneinander in Berlin-Schöneberg begraben worden) führten andere Sprachwissenschaftler das Werk fort. Erst 1961 nach 123 Jahren wurde das Werk mit dem 32. Band beendet. 1971 erschien ein Quellenband. Alle Bände zusammen umfassen in der vierten Auflage von 1999 exakt 34.824 Seiten.
Die Online-Ausgabe findet sich hier: http://germazope.uni-trier.de/Projects/DWB
Im 1877 veröffentlichten Band H-J (10) des DWB finden sich nicht weniger als 12 komplette Spalten (2351-2363) mit zahlreichen Stichwörter die oft verblüffende Bezüge zu Juden und Jüdischem herstellen wollen und im heutigen Sprachgebrauch größtenteils nicht mehr vorkommen. Im 19. Jahrhundert freilich waren diese Begriffe mehr oder minder gebräuchlich und wohl auch für alle prägend, die mit diesem „objektiven“ Standardwerk der deutschen Sprache und den teilweise umfangreichen beigefügten Begriffserläuterungen vertraut gemacht wurden.
Sich damit (wenigstens in Auszügen) vertraut zu machen, lohnt sich – unter anderen Vorzeichen auch heute noch oder wieder. Die entsprechenden Einträge (die Schreibweisen sind, wo sie keine im Werk aufgeführten Belegstellen zitieren, dem heutigen Schreibweisen angepasst) beginnen alphabetisch mit „JUDAS“, der u.a. erläutert wird als Synonym „für einen heimtückischen Menschen überhaupt“.
Es folgen
JUDASBAUM
JUDASBEUTEL, eine bildliche Metapher für das „Verlangen nach schnödem Gewinn“
JUDASBRUDER = „ein falscher Bruder“
JUDASJAGEN nimmt Bezug auf einen auch in der Augsburger Region (Jaudasjagen) belegten katholischen Brauch zur christlichen Fastenzeit, mitunter wurde eine Judas-Strohpuppe dabei verbrannt.
JUDASGRUSS, JUDASKUSS
JUDASOHR, Name einer ostindischen Flussschnecke voluta auris Judae, vom Aussehen erinnert die Muschel eher spitzen Eselsohren
JUDASÖHRLEIN, ein Schwamm peziza auricula, auch JUDASSCHWAMM
JUDASSCHWEIS, ein besonders starker Angstschweiß
JUDASZUNGE, falsche Zunge
Ausführlicher erklärt wird das Stichwort JUDE, unterteilt in 10 Unterpunkte:
1. der fremde Eigenname, der im lateinischen Gewande zu uns kommt
2. Jude heißt sowohl der Bewohner des jüdischen Landes im alten Testament, wie auch der von dort Vertriebene …
3. von ihren schlimmen Eigenschaften werden namentlich ihre Unreinlichkeit, sowie ihre Gewinnsucht und ihr Wuchersinn in mannigfachen Verwendungen betont … („er stinkt wie ein Jude“, „schmecken wie ein toter Jude…“)
4. Sprichwörtliches: „Willst du einen Juden betrügen, musst du ein Jude sein“ …
5. Unter Jude wird auch bloß der hausierende Handelsjude verstanden: etwas beim Juden kaufen, der Jude schachert, … Sprichwörtlich: fürs Gewesene gibt der Jude nichts
6. Auch abgesehen von der Religion, wird der, welcher gewinnsüchtig und wucherisch verfährt, ein Jude genannt …: ein unbeschnittener Jude; „zwanzig Prozent nimmt der allerchristlichste Jude“ (Lessing), „Es gibt doch wohl auch Juden, die keine Juden sind“ (Schiller) , …
9. Jude, ein Gedicht, Fabel: jemanden einen Juden anhängen
10. ein stacheliger Bart: „ich habe einen wahren Juden im Gesicht, muss mich balbieren lassen“ …
Dem Stichwort JUDE folgen nun eine Anzahl damit verknüpfter Assoziationen etwa der JÜDELEI, das JÜDELN, als Verb auch: juden (ich jude, du judest, er judet, …ihr judetet, wir werden gejudet haben ..? ). JÜDELN wird dabei so erklärt: die Art eines Juden öfter zeigen; im Handel betrügen; wie ein Jude riechen… Verwandt damit ist wohl auch das Verb JUDENZEN: eine jüdische Art an sich tragen und hervorkehren, im Denken… Die „Zuspitzung“ davon dürfte wohl der Terminus JÜDSCHEN sein, ein Verb welches erklärt wird mit: „jüdisch machen, daher: beschneiden“.
Es gibt jedoch noch eine ganze Reihe spezifischer Begriffe wie JUDENBENGEL („Schimpfwort für einen jüdischen Knaben oder jungen Mann“), JUDENJUNGE, JUDENFRAU, erstaunlicherweise ein Synonym für „Jüdin“, JUDENGENOSSE („Genosse der Juden nach Art und Glauben: weh euch, Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler,…“), JUDENMÄDCHEN, … oder summa summarum: das JUDENGESINDEL , im Deutschen Wörterbuch dargelegt als „das weltverlaufene und an seinem Erlöser treubrüchige Jüdengesindlein“.
Eine Anzahl von Begriffen leiten sich von der Religion ab:
Der JUDENAPFEL etwa, definiert als citrus decumana, Paradiesapfel, von den Juden zum Laubhüttenfest gebraucht (gemeint ist der Etrog, heute durchgängig als citrus medica cedra bezeichnet. (Vom hebräischen Wort ertrag leitet sich über persisch etransch das heute in aller Munde befindlich Orange ab, was allgemein für Arabisch gehalten wird. Im Arabischen heißen Orangen freilich „burtukal“). In der „teutschen apothek“ (1548) werden „Citronaten“ als „Judenöpfel“ übersetzt.
Als JUDENFUHRE wurde von Fuhrleuten bezeichnet der „Transport mit JUDENÄPFELN von Italien nach Deutschland zum Ausschmücken der Laubhütten, der schnell geschehen musste und gut bezahlt wurde.“
Das Stichwort JUDENSCHUL wird erläutert als Synagoge. Sprichwörtlich: „es geht zu wie in einer Judenschule“ (d.h. laut, lärmend; ein Ausdruck der nicht nur bei älteren Deutschen zumindest im ländlichem Schwaben noch geläufig ist, wobei klar ist, dass es sich nur um einen tradierten Ausdruck handelt, ohne eigenem Erfahrungshorizont).
„ich schätz, du seist dein Freunden als genehm,
als wenn ein sau in die judenschul käm“
Viele Begriffe sind auch heute noch selbsterklärend (auch wenn nicht ersichtlich ist, worin der Bedarf diese Worte bestand): JUDENBART („großer Bart nach Judenart“), JUDENDEUTSCH („Deutsch wie es die Juden sprechen mit hebräischen Bestandteilen versetzt“ – „Christendeutsch“ wäre demnach wohl „Deutsch wie es die Christen sprechen, mit lateinischen Bestandteilen versetzt“?). Ein JUDENBEKEHRER ist jemand versucht Juden zum Christentum zu bekehren, der im „Erfolgsfall“ daraus hervorgehende JUDENCHRIST wird auf zwei Weisen erläutert: 1. ein Christ jüdischer Herkunft, 2. ein getaufter jüdischer Spekulant. Die JUDENGASSE („Gasse in welchem die Juden im Mittelalter abgesondert wohnen mussten“ – zumindest in Augsburg war dem trotz des Straßennamens nicht so), JUDENGEMEINDE, JUDENVIERTEL (nicht zu verwechseln mit dem erst späteren VIERTELJUDEN), JUDENGLAUBE (auch JÜDENGLAUBE), schließlich auch das in neuerer Zeit vielfältiger verwandte JUDENHAUS („Haus eines Juden, Haus wo Juden wohnen“, aber auch als Begriff für Synagoge; sprichwörtlich: „er ist so willkommen wie ein Ferkel im Judenhaus“). Neben Judenhaus und Judenschul ist dem DWB gemäß noch JUDENKIRCHE ein anderer Begriff für Synagoge, der auch in alten städtischen Urkunden in Augsburg namentlich belegte JUDENKIRCHHOF bezeichnet hingegen den Friedhof in der Stadt, der anders als man dem Begriff nach vermuten könnte, nicht in der Nähe der Synagoge war. Der ebenfalls in Augsburg bekannte JUDENHUT ist ein „Hut von der Form und mit dem Abzeichen, wie ihn die Juden im Mittelalter tragen mussten“ zugleich aber auch ein „Pflanzenname: auch Judenhütchen, Judenhütlein: von rhamnus paliurus, judendorn, impatiens nolitangere, springkraut; physalis alkekengi, judendocke..“ Etwas sehr verharmlosend ist die Erläuterung des JUDENRINGLEIN: „Ringlein wie es die Juden als Abzeichen auf der Brust oder auf dem Hut tragen“. Zum einem trugen „die“ Juden ein solches Abzeichen nicht freiwillig, sondern unter Nachahmung muslimischer Vorbilder an manchen Orten in Deutschland zeitweilig und unter Zwang. In Augsburg wurde 1434 eine solche Pflicht auf Drängen der Kirche angeordnet, damit die Juden nicht mehr freundlich gegrüßt und mit gut gekleideten Priestern verwechselt werden konnten. Abgesehen davon hatte der Ring in Augsburg einen Durchmesser von 19 cm, was die Bezeichnung „Ringlein“ unangebracht erscheinen lässt. Einen expliziten Augsburger Bezug hat der Eintrag JUDENHAUBE, der so erklärt wird: „eine Frauenzimmerhaube der Augsburger Tracht“. Kopfbedeckungen für männliche Juden werden JUDENKAPPE oder JUDENMÜTZE genannt.
Es gäbe noch zahllose weitere Varianten und Unterbegriffe, die sich in den angeführten Belegstellen exemplarisch noch mehr verbreiten. Sprachlich interessant ist aber zum Abschluss eine Sammlung von Begriffen zur Erklärung der Natur, worin der Volksmund oder einzelne deutsche Naturwissenschaftler jüdische Eigenheiten entdeckten, die Motiv für eine entsprechende Benennung waren:
Da wäre etwa das JUDENHARZ auch bekannt als JUDENLEIM oder JUDENPECH und definiert als „bitumen asphaltum“, was nichts anderes ist als der (heute meist aus Erdöl gewonnene) Asphalt, der inzwischen überall zum Straßenbau verwendet wird. Den Arabern wird nachgesagt, dass sie bereits vor tausend Jahren damit praktische Erfahrungen sammelten. Warum man dies nun ausgerechnet mit gleich verschiedenen Namen „den Juden“ zuschrieb ist unklar, aber sicher eine eigene Recherche wert. Etwas seltsam mutet auch der JUDENSTEIN an, mancherorts als Ortsangabe vermittelt mit Bezug zu einem meist bereits verschwundenen, sprich überbauten jüdischen Friedhof. Im Wörterbruch der Grimm – Nachfolger jedoch ist es die Bezeichnung für Olivenkerne (Olivensteine) oder aber Stachel oder Pfeile von Meerigeln … „die lang und dünn geformten heißen JUDENNADELN“. Als JUDENBAUM oder JUDENDORN bezeichnete man rhamnus paliurus heute eher geläufig als Stechdorn. Eine JUDENDOCKE physalis alkekengi nennt man heute Lampionblume. Der namensgebende Blütenkelch der heute an Lampions erinnern soll wurde früher als Judenhut gedeutet. Als JUDENKIRSCHE wurden früher Hagebutten bezeichnet. Als JUDENFISCH wurde hingegen squalus zigaena, der Hammerfisch angegeben: „wegen der Ähnlichkeit seines Kopfes mit einer eigentümlichen jüdischen Kopftracht“. JUDENKRAUT hingegen wird erklärt als „stachys annua, jährige Rossnessel, Hexenkraut; auch achillea millefolium, Schafgarbe“.
Und in dieser Art geht es noch munter weiter: JUDENNUSS staphylea pinnata, kennt man heute als Pimpernuss. Die Pflanze ist selten geworden. Ihre Früchte sehen aus wie kleine Haselnüsse und erinnern geschmacklich an Pistazien. Überliefert ist die Existenz eines Pimpernusslikörs. Aber es gibt da auch noch die JUDENPAPPEL, den JUDENPFEFFER, den JUDENPILZ , die JUDENFEDER oder in literarischen Werken auch die JUDENLEBER („Leber eines Juden“) als phantastisches Zaubermittel: „… thut auch Drachenschuppen dran, Hexenmumien, Wolfeszahn, … Judenleber, Ziegengall, Eibenzweige, abgerissen bei des Mondes Finsternissen.“ (Schiller) . Nicht nur Schillers Freund Christian Körner fand dies ausgesprochen komisch und schreibt am 2. Dezember 1804 aus Dresden an den Verfasser: „Als vollends die Judenleber mit solchem Pomp her deklamiert wurde, wäre das Parterre beinahe in allgemeines Lachen ausgebrochen.“
Nach der Anzahl und Vielfältigkeit zu urteilen muss Deutschland damals wohl noch ein JUDENLAND („Land der Juden oder auch Land wo viele Juden wohnen“) gewesen sein, auch wenn die große Mehrzahl der Begriffe merkwürdig und absonderlich anmutet. Das meiste haben sich wohl JUDENSPÄHER (jemand der argwöhnisch Ausschau hält nach Spuren von Jüdischem: „… an dem wackeren Herz möchte auch der scharfsinnigste Judenspäher keine Spur seiner Abstammung erkennen“) aus den Fingern gesogen, beim Versuch in die rätselhafte JUDENSEELE („Seele eines Juden, von einem wucherischen Menschen“; sprichwörtlich: „verloren wie eine Judenseele“) zu blicken.
Man benötigt nicht zu viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie ab 1877 gebildete Schüler und Studenten, mit den objektiven, sachkundigen Erklärungen des angesehenen Deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm als Maßstab Juden wahrgenommen haben. Wer etwas nicht wissen oder genau erklären kann, schaut ins Wörterbruch oder Begriffslexikon und schlägt nach. Davon leben entsprechende Werke auch heute noch.
Aber wie sieht es heute aus mit dieser Art Vokabular? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Sprachschatz zur Definition der Juden zweifellos noch weit vielfältiger geworden – und vielleicht existiert irgendwo auch eine Sammlung von Begriffen, wie sie sich etwa in der NaziPostille „Stürmer“ finden lassen. Aus den Wörterbüchern der Zeit nach 1945 ist aber bereits auch das meiste aus dem Bestand des DWB vollständig verschwunden. Im nunmehr wieder ungedruckten Volksmund hat sich aber mehr gehalten als vermutet oder eingeräumt wird. Immer noch etwa hört man ganz selbstverständlich Ausdrücke wie Halbjude (ohne das erläutert wird, welche Hälfte der betreffenden Person jüdisch ist: die rechte, die obere?) Das kann bei der allgegenwärtigen Verbreitung und dem hohen Ansehen der Werke auch gar nicht anders sein.
Die Gegenwart des vereinten, weltoffenen Deutschland hat jedoch längst eigene Verhaltens- aber auch Sprachregeln festgelegt. Demnach würden andere Wendungen in einem solchen Werk stehen müssen, etwa die Metapher von den „jüdischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen“ (die keine Mit-Bürger sind, sondern Bürger oder nicht). Insbesondere die modernere lokale, regionale, in aller Regel jedoch (abermals) universitäre Geschichtsforschung hat sich ein wenig doch verdient gemacht um die Schaffung von Ersatzvokabular für das was man nun etwas boshaft die „Grimmsche Lücke“ nennen könnte: Da ist nun von Hofjuden (oder neutraler Hoffaktoren) die Rede, von Schutzjuden, von Kammerjuden, von Betteljuden und Judenregalen, sogar Vorstadtjuden sind schon belegbar. Die meisten Begriffe verknüpfen sich direkt oder bald mit finanziellen Zuordnungen, die scheinbar unverzichtbare Grundlage sind, um Juden und Judentum (von außen) zu verstehen. Besitzende und besitzlose Juden werden gleichermaßen mit dem Merkmal des Unsteten typisiert und da Juden in früheren Zeiten nicht fliegen konnten, spricht man auch von Land- und nicht von Luftjuden.
Die gewiss bemerkenswerteste „Bindestrichisierung“ im Zusammenhang mit Juden ist aber zweifellos der Terminus des Nicht-Juden dessen charakteristische Eigenart in jeweiligen Kontexten als nicht-jüdisch umschrieben wird. Das erinnert ein wenig an Nicht-Schwimmer oder Nicht-Raucher, erscheint aber, da anders als Rauchen oder Schwimmen mit keiner spezifischen, nur zeitweiligen Tätigkeit als Ausschlussdefinition verbunden, etwa so „sinnvoll“ wie die Bezeichnung Nicht-Mann für Frau, Nicht-Erwachsener für Kind oder noch offener Nicht-Katze anstelle von Hund. Im spätmittelalterlichen oder frühneuzeitlichen historischen Kontext ist es offensichtlich, dass „Nicht-Juden“ in Deutschland doch wohl Christen waren und keine Nicht-Juden. Vielleicht vermeidet man diese direkten Bezeichnungen aber auch, um in akademischen Abhandlungen der jüdischen Verhältnisse nicht in Gefahr zu geraten, das Vokabular auf die eigene (in der Regel „nicht-jüdische“) Abstammungslinie anzuwenden. Man könnte von Hof-, Land- oder Bettelchristen abstammen oder falls man dies alles nicht zu persönlich nimmt, zumindest Größen wie Mozart oder Goethe im Blickwinkel auf ihre Steuerleistungen zu verengen. Es sagt – wie bei jüdischen Gelehrten ja auch – vielleicht viel mehr über Goethe aus, wenn man sieht, wieviel Steuern er gezahlt hat. Wozu soll man sich auch durch seine staubigen Bücher quälen? Und wer war der bessere Komponist, Mozart oder Beethoven oder Bach? Das kann uns ihre Musik nicht sagen, vielleicht aber die Einträge in den Steuerlisten?
März 2017: Ausführlicher beschrieben im Buch:
Yehuda Shenef
Humor, Wucher, Weltverschwörung: Die geläufigsten Vorurteile gegenüber Juden und was es mit diesen auf sich hat
ISBN: 978-374-3181-205
Taschenbuch: 260 Seiten
13 Euro
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Posted by yehuda