
Im Zuge unserer Bemühungen zur Säuberung, Pflege und Restaurierung des Jüdischen Friedhofs zu Kriegshaber wurden seitens der Anwohner Bedenken laut, dass der Baumbestand des Friedhofs einem Kahlschlag zu Opfer fallen könnte. Bei einem gemeinsamen Treffen mit dem Beirat der Anwohner konnten wir diese Befürchtungen als unbegründet ausräumen. Die Zusammenkunft am 24. Juli 2008 im Gemeindezentrum von St- Thaddäus an der Madisonstraße hatte Pfarrer Groll organisiert, wofür wir ihm herzlich danken. Neben den Anwohnern und Vertretern des JHVA erschien auch Herr Engelhard vom städtischen Grünamt der Stadt Augsburg, wegen seiner fachkundigen Informationen für die Anwohner, und für die “Augsburger Allgemeine” Zeitung Frau Karen Eva Noetzel, die wir beide dazu eingeladen hatten.
In unserer geschichtlichen Dokumentation des Friedhofs ergab sich ein ganz klares Bild. Die Umgebung des Friedhofs war über Jahrhunderte hinweg ein freies, unbebautes kärglich fruchtbares Gelände ohne jeglichen Baumbestand. Noch bis in die 1930er Jahre gab es um den Friedhof herum sog. Halbtrockenrasen, der nur einmal jährlich eine Heuernte, die Mahd ermöglichte. Danben befand sich seit den 1800er Jahren ein militärisches Gelände mit einem Kugelfang für Schießübungen und dergleichen. Erst unter US-amerikanischer Besatzung entstanden um den Friedhof herum Wohncontainer für die Unterbringung von Soldaten und ihrer Familien. Sie bilden heute die Wohnanlagen der Nachbarschaft.
Es ist uns völlig verständlich, dass die Anwohner des jüdischen Friedhofs das Gelände auch von außen als eine Art „grüner Lunge“ in ihrer ansonsten immer dichter bebauten und verkehrs- aber wenig abwechslungsreichen Umgebung schätzen. Wir verstehen voll und ganz, dass sie sich darum sorgen, dass der Baumbestand am Friedhof gefährdet ist. Und in der Tat, er ist es.
Als historischer Verein ist der JHVA selbstverständlich der Dokumentation und Bewahrung des Erbes der jüdischen Kultur und dem Gedenken an die jüdischen Menschen, die hier Jahrhunderte lebten verpflichtet. Wir sind deshalb natürlich in erster Linie daran interessiert und der Aufgabe verpflichtet, jeden Grabstein, jedes Fragment, jeden Buchstaben zu retten und zu bewahren. Jedoch bedeutet dies nicht, dass wir dem Naturschutz in irgendeiner Weise ablehnend gegenüberstünden.
Das Gegenteil ist der Fall.
Einige grundsätzliche Standpunkte der jüdischen Religion, die in der heutigen Zeit der Verstädterung zugegeben immer weniger Beachtung finden, erläutern dies selbstredend.
Schon der Mensch selbst – hebräisch adam – findet sein sprachliches Gegenstück in adama, was wörtlich Erde bedeutet. Der Mensch und die Erde – adam ve-adama – bilden deshalb ein Paar im Angesicht Gottes.
Die Lehren des Judentums beinhalten nicht nur das älteste Lebensmittel-, sondern auch das älteste Naturschutzrecht. Dies beginnt bereits im ersten Buch der Bibel mit dem Gan oder Garten Eden als Sinnbild des vollkommenen, mühelosen irdischen Lebens inmitten einer befreundeten Natur. Es ist kein Zufall, dass in dieser Geschichte der Thora Bäume als Quell des Lebens und der Erkenntnis aufgezeigt werden. In der Thora finden Juden das Verbot selbst im Kriegsfall Nutzbäume zu fällen. D.h. der Naturschutz wird höher bewertet als möglicherweise entscheidende Erfolge im Krieg. Allgemeiner bekannt ist auch das biblische Gebot des Schmitta-Jahres, sozusagen als Schabbat-Jahr für die Natur, die sich wie der Mensch am siebten Tag im siebten Jahr von ihrer Arbeit und Mühe erholen soll. Schließlich feiert man heute in Israel und zunehmend auch im Rest der Welt, das alte talmudische vom modernen Zionismus wieder aufgegriffene Neujahrsfest der Bäume – rosch ha-schana ha ilanot – mit der Anpflanzung neuer Bäume. Ganze Wälder sind auf diese Weise in den letzten Jahrzehnten in Israel neu entstanden, zum Nutzen von Menschen und Tieren.
Es wird deshalb auch nicht verwundern, dass im jüdischen Gebetbuch, dem Sidur gleich nach der Thoralesung die Thora selbst als Baum des Lebens bezeichnet wird: „HaThora … Etz chajim hi le-macha-sekim ba…”.“Die Thora ist ein Baum des Lebens für jene, die sich an sie klammern.“
Im Judentum bezeichnet man Friedhöfe häufig auf Hebräisch als Bet Chajim oder Bet Olam. Bet Chajim lässt sich je nach Auffassung als „Haus des Lebens“ oder schlicht als „Leben“ übersetzen. Das ist kein Euphemismus, um von den Toten abzulenken, da nach jüdischer Auffassung auf einem Friedhof eigentlich nichts von den Toten und dem Gedenken an sie ablenken soll. Der Begriff besteht wegen der Nähe und der Einbettung der Grabstätten in die Natur. Und die lebt und soll leben. Bet Olam wiederum wird mit „Haus der Welt“ oder schlicht „Welt“ übersetzt, wobei das zugrunde liegende Verb ala, ola wörtlich aufsteigen, wachsen, emporwachsen bedeutet. Schon sprachlich also ist die „Welt“ im Judentum deshalb „das Wachsende“, also begrifflich, das was wir lateinisch „Natur“ nennen. Über Juden die bestattet werden spricht man deshalb auch das biblische Wort „Erde zu Erde und Staub zu Staub“, bzw. „Staub warst und Staub wirst du wieder“. (…ve-afa taschuw)
Für uns Juden ist der Friedhof auch ein Vorgeschmack auf die künftige Welt – ha-olam haba – und damit auf den Garten Eden. Denkmalschutz und Naturschutz können also in der Perspektive des Judentums keine Gegensätze sein und stehen deshalb grundsätzlich in keinem Konflikt.
Ganz allgemein lässt sich sagen: Das talmudische (oder christlich gesprochen: das pharisäische) Judentum ist nicht ideologisch, sondern durchweg pragmatisch und auf das menschenmöglich Machbare Bezogen. Der universelle Grundsatz dabei ist immer die Annahme, dass Gottes Gebote Nutzen bringen und nicht schaden. Das bedeutet, dass alles, was uns in dieser Welt begegnet durch das Gebot Gottes lösbar wird, wenn wir es verstehen, seinen Gehalt zu erfassen und umzusetzen. Es gibt deshalb keine Patentrezepte, sondern nur praktische Erfahrungswerte. Im Talmud heißt es, man urteile nicht über einen Menschen, wenn man nicht in seiner Sachlage ist und nicht über ein Problem, dessen Details man nicht kennt.
Für die Lage am Friedhof bedeutet dies, dass wir auch aus religiösen Gründen den Naturschutz ungefragt ernst nehmen, da wir unsere Gräber als Bestandteil der Natur verstehen und von nichts anderem ausgehen können und wollen.
Das grundlegende Problem am fast 400 Jahre alten Kriegshaber Friedhof ist die Vernachlässigung des Geländes in den letzten 90 Jahren. Mit Auflösung der thoratreuen Kriegshaber jüdischen Gemeinde im Jahre 1911 kam der Sinn für die Verantwortung abhanden. Zwar gab es in der Folge Generationen von Friedhofswärtern, die nach dem Rechten sahen, aber sie gestalteten das Gelände mehr und mehr im Eigennutz und kümmerten sich wenig. In den letzten Jahren geschah nicht mal mehr das Nötigste.
In der Folge wuchsen Efeu und Bäume wild und brachten endloses Gestrüpp hervor. Der Efeu nun bedroht nicht nur die Grabsteine der hier bestatteten Menschen, sondern auch die Bäume. Er nimmt ihnen das notwenige Licht und tötet jeden Baum, den er umschlingt, früher oder später ab, und raubt im Wurzelreich die notwenigen Nährstoffe, usw. Der Baum wird also sozusagen stranguliert. Schon Plinius der Ältere hat vor rund 1900 Jahren die gleiche Erfahrung gemacht: „Lässt du Efeu einfach wachsen, wird dein Garten irgendwann nur noch aus Efeu bestehen.“ (historia naturalis)
Grundsätzlich gehen wir, was die Bewahrung und Restaurierung der Grabsteine anbetrifft davon aus, dass man jeden einzelnen Fall gesondert betrachten und lösen muss. Wenn ein groß gewachsener – gesunder – Baum einen noch halbwegs intakten Grabstein in seiner Substanz bedroht, ist es sinnvoll und machbar, den Stein zu versetzen. Dies ist prinzipiell möglich. Handelt es sich um nachwachsende Sämlinge, die zwar jetzt keine Gefahr darstellen, aber nach weiteren zehn Jahren Gleichgültigkeit zu einer werden, so handelt man besser jetzt. Bereits zerbrochene Steine werden aber auch nicht wieder heil wenn man einen unversehrten Baum beseitigen würde, usw. Es ist also klar, dass in jedem einzelnen Fall, die gar nicht so gegensätzlichen Interessen des Denkmal- wie des Naturschutzes optimal berücksichtigt werden müssen, um jeweils die beste Lösung zu finden.
Jedoch sind kranke Bäume, die umstürzen eine Gefahr für Menschen und den Grabsteinbestand. Erst im März ist ein groß gewachsener maroder Baum nach einem Sturm umgestürzt und hat zum Glück keine Grabsteine beschädigt. Zum noch größeren Glück ist er auch nicht nach außen, sondern ins Gelände gestürzt.
Aber stellen wir uns vor, was wäre, wenn ein schadhafter Baum nach außen fällt, und etwa ein Auto beschädigt. Dass dabei auch Passanten oder spielende Kinder getroffen werden könnten, wollen wir uns – Gott bewahre – nicht ausmalen. Da der Grad der Baumschädigung zunimmt und die Anzahl der Stürme offenbar auch, gibt es ein objektives Problem, eine potentielle, reale Gefahr. Diese betrifft in allererster Linie die Anwohner des Friedhofs – aber sie betrifft auch den rechtlichen Eigentümer des Friedhofs, der haftbar wäre für entsprechende Schäden, da dies Fragen der „Verkehrssicherheit“ betrifft.
Herr Engelhard stellte fest, dass die Bäume von ihrer Substanz nichts besonderes und nicht schützenswert seien. Prinzipiell könnten sie alle gefällt werden, was natürlich nicht wünschenswert wäre – und auch nicht beabsichtigt ist. Ausgenommen sind der Baumverordnung nach Bäume, deren Umfang in einer Meter Höhe mindestens 80 cm beträgt. In diesen Fällen müsse der Eigentümer des Friedhofs eine Fällung eigens beantragen. Hinzu kämen rechtliche Fragen hinsichtlich der Vögelnistplätze. Das geltende Recht schreibt hier vor, dass Bäume beispielsweise nicht in der Brutzeit gefällt werden dürfen. Herr Engelhard nahm aber sehr erfreut zur Kenntnis, dass es zwischen den Interessen keinen wirklichen Konflikt gibt und sich die Sachlage im Einzelfall, so und so lösen lässt und für tatsächlich zu fällende Bäume auf geeignetem Gelände auch sinnvolle Neueinpflanzungen möglich sind.
Auch die Bewohner waren sichtlich erleichtert, dass die Missverständnisse gänzlich ausgeräumt und geklärt werden konnten. Jedoch machten sie uns auf aktuelle Bebauungspläne aufmerksam, die ggf. darauf hinauslaufen könnten, dass an der Ostseite des Friedhofs im alten Kraftwerk der US-Siedlung ein neuer Eigentümer ein Restaurant errichten könnte. Eine „Gaststätte zum Friedhof“ halten wir vom JHVA nicht für geschmackvoll und nur wenige Meter vom Friedhofsgelände auch nicht für wünschenswert, da dies unsere Bemühungen für den Erhalt des Friedhofs in der Tat abträglich sein könnte. Auch die Anwohner wollen in ihrer Nachbarschaft keine Lärmbelästigung, die zwangsläufig entstünde und so stellten wir am Ende unseres gemeinsamen Treffens fest, dass wir unsere Kräfte bündeln können.