Irsee: Geschichte der Juden in Schwaben

May 12, 2022

Seit 900 Jahren: Juden in Schwaben

Seit dem 3. Jahrhundert leben Juden im Raum des heutigen Deutschland. Heuer erinnern wir an die erste schriftliche Erwähnung von Juden in Köln vor 1700 Jahren. In Schwaben ist mit Joseph de Augusta im Jahr 1208 ein Jude urkundlich erwähnt. Zugleich stehen wir 80 Jahre nach der Shoa vor der Zunahme von antisemitischer Hetze, von Gewalttaten und Anschlägen in Deutschland, die von den unterschiedlichsten Gruppierungen ausgehen.

Wie können wir angemessen der jüdischen Geschichte erinnern? Zwei Ansätze bieten sich an: Wir hören auf die Zustandsbeschreibung von hier in Schwaben lebenden Juden und auf profilierte jüdische Kulturträger; wir fragen nach den Perioden von Normalität und Konflikten in der jüdischen Geschichte Deutschlands.

Die Referenten der 33. wissenschaftlichen Tagung zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben werfen einen Blick zurück in die Geschichte von Nachbarschaft, Kooperation und Konflikten, auf die Situation heute und auf die Chancen digitaler Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert.

Zugleich wird im Rahmen dieser Tagung mit Dr. Peter Fassl der ehemalige Heimatpfleger des Bezirks Schwaben, der seit Ende 2020 im Ruhestand ist, von Bezirkstagspräsident Martin Sailer öffentlich verabschiedet, was pandemiebedingt mehrfach verschoben werden musste.

33. Tagung zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben
Schwabenakademie Irsee, 17. bis 18. Mai 2022

Programm

Dienstag, 17. Mai 2022

14.00 Uhr
Dr. Markwart Herzog, Direktor Schwabenakademie Irsee / Christoph Lang, Bezirksheimatpfleger Schwaben: Begrüßung

14.15 Uhr
Dr. Peter Fassl, Heimatpfleger des Bezirks Schwaben i.R., Augsburg: Einführung in die Thematik der Tagung

14.30 Uhr
Yehuda Shenef, (JHVA) Augsburg / Sigrid Atzmon, Freundeskreis der ehemaligen Synagoge Hainsfarth: Normalität – für Juden heute?

15.30 Uhr
Prof. Dr. Michael Brenner, Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur, Ludwig-Maximilians-Universität München: Erwartungen und Hoffnungen der Juden in Deutschland

16.00 Uhr
Kaffeepause

16.15 Uhr
Jim G. Tobias, Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts: Antisemitismus heute in Bayern

17.00 Uhr
Martin Sailer, Bezirkstagspräsident von Schwaben und Vorsitzender der Schwabenakademie Irsee: Verabschiedung von Dr. Peter Fassl, Heimatpfleger des Bezirks Schwaben i.R.

18.30 Uhr
Abendessen

Mittwoch, 18. Mai 2022

9.00 Uhr
Anton Limmer, Jüdisches Museum Augsburg Schwaben / Dr. Maximilian Strnad, Institut für Stadtgeschichte und Erinnerungskultur, München / Angela Bachmair, Kulturjournalistin (Moderation): Erinnerungskultur digital – Expertengespräch

10.00 Uhr
Dr. Johannes Mordstein, Stadtarchiv Wertingen: Die Koexistenz von Juden und Christen in der Grafschaft Oettingen am Beispiel der Judenschutzbriefe

10.45 Uhr
Kaffeepause

11.00 Uhr
Dr. Axel Töllner, Institut für Christlich-Jüdische Studien und Beziehungen, Augustana-Hochschule Neuendettelsau: Zwischen Hoffnung und Abneigung: Evangelische Perspektiven aus Bayern auf Judentum und jüdisches Leben zwischen 1806 und 1945

11.45 Uhr
Dr. Claudia Madel-Böhringer, Stadtarchiv Ichenhausen: „Eine Gemeinde nährt sich zum Teil durch die andere.“ Kooperation und Konflikte im Wirtschaftsleben der christlichen und jüdische Gemeinde Ichenhausens

12.30 Uhr
Mittagessen

14.00 Uhr
Gerhard Beck, Fürstlich Oettingen-Wallersteinsches Archiv, Harburg (Schwaben): Gute Nachbarschaft und Konflikte. Das Verhältnis zwischen Juden und Christen im Nördlinger Ries

14.45 Uhr
Dr. Claudia Ried, Kreisheimatpflegerin Landkreis Augsburg: Zwischen Normalität und Konflikt. Das Zusammenleben von Juden und Christen in Schwaben im 19. und 20. Jahrhundert

15.30 Uhr
Schlussdiskussion

16.00 Uhr
Ende der Tagung / Abreise

Konzeption und Leitung

Dr. Peter Fassl, Heimatpfleger des Bezirks Schwaben i.R., Augsburg

Veranstalter

Heimatpflege des Bezirks Schwaben
Schwabenakademie Irsee

Kontakt

Schwabenakademie Irsee • Klosterring 4 • 87660 Irsee
Telefon: 08341 906-661 oder -662
E-Mail: buero@schwabenakademie.de
www.schwabenakademie.de

Foto: (c) Schwabenakademie Irsee 


Gibt es eine jüdische Zukunft in Schwaben ..?

November 30, 2010

Als Außenstehende und im Wortsinn beinahe „displaced persons“ war es für uns durchaus eine bemerkenswerte, aber leider auch sehr kurzfristige Erfahrung, gewissermaßen im Vorprogramm einer zweitägigen Fachkonferenz von Museumsvertretern die sich mit der „Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben“ beschäftigt, als „jüdischer Verein“ einen Vortrag zu halten und dabei Grundlagen und Ziele anzusprechen und dabei einige Einblicke in bereits vier Jahre unserer Aktivitäten und Interessen zu resümieren. Der Zeitplan freilich, mit einer direkt auf unseren Vortrag folgenden Mittagspause, der mit Schneefall einbrechende Winter und insbesondere der Ende November schon früh beginnende Schabbes am Freitagnachmittag ermöglichten uns jedoch lediglich nach unserem Beitrag, einmal um das Gelände der Klosteranlage zu laufen und abzufahren. Es bot sich uns deshalb leider keine Gelegenheit, ein Feedback zu bekommen, die gewiss auch für unsere Arbeit interessanten Vorträge der Fachleute und ihre ganz anderen Perspektiven und Erfahrungen zu hören und Anregungen oder sonst immer willkommene Kritik aufzunehmen. Lediglich einige wenige Wortwechsel am Rande vor und nach unserem Beitrag waren erreichbar, so wie wir auch einige Bekannte von früheren Exkursionen, wie etwa Frau Atzmon oder Herrn Auer bei der Konferenz antreffen konnten. Von den bis Freitagmittag anwesenden rund 30 Teilnehmern der Tagung in Irsee stellte der JHVA zusammen mit unseren Mitgliedern Jakow Samoylovych und Agnes Maria Schilling immerhin vier.

Der Gastgeber der Tagung Bezirksheimatpfleger Dr. Peter Fassl vom Bezirk Schwaben, der in seiner Eingangsrede bereits einige kritischen Punkte ansprach und die berechtigte Fragte aufwarf, ob die sog. “Erinnerungsarbeit” die etablierte Institutionen leisteten die real existierenden Juden in der Region überhaupt erreichten und berührten. Schon seine frühere Erfahrung in “jüdisch-christlichen” Gesellschaften, zu denen kaum oder kein Jude kam und wo Christen selbst eigene Abarten jüdischer Feste feierten, um sich den (nicht anwesenden) Juden “irgendwie verbunden” zu fühlen, haben ihn daran zweifeln lassen, ob es sich nicht eher um ein Nebeneinander handle…

Das wäre dann vielleicht auch so, als wenn Juden ohne Christen Karfreitag feierten … 🙂

Die Perspektive des JHVA ist – bei allen individuellen Standpunkten und Voraussetzungen der einzelnen Mitglieder- in der Summe doch etwas anders. Grundlage für das Selbstverständnis ist Talmud – Thora, weniger im Sinne vom Sammeln alter Bücher, sondern vom Studium der Inhalte und den Ableitungen daraus für das tägliche Leben. Mitglieder des JHVA müssen keine Juden sein, jedoch sollten sie einen Bezug zu Gott haben, ob katholisch, islamisch oder … eben jüdisch, andernfalls lässt sich die Geschichte auch vor Ort nicht erfassen und weiter vermitteln, außer man beschränkt sich auf Steuerlisten.

Schon aus der geschichtlichen Betrachtung ergeben sich zugleich entsprechende Interessen oder Sympathien: wo und wie haben Juden gelebt, unter welchen Verhältnissen und Beziehungen an welchen Orten, wie haben sie diese Begebenheiten nutzen können, um vor Ort die Gebote der Thora zu erfüllen und auf welche Widerstände und Besonderheiten sind sie dabei gestoßen. Welche Beziehungen gab es zu Christen und anderen und welchen Einfluss haben sie untereinander genommen, wie haben sie die gemeinsame Geschichte bewerkstelligt, wo waren Gemeinsamkeiten, wo Gegensätze, wie der Alltag.

Das wesentliche Ziel ist es den zugewanderten Juden aus Osteuropa, die in zweiter, dritter oder gar vierter Generation Nachkommen einer bereits verlorenen Generation von Juden entstammen in der neuen, alten Heimat Anhaltspunkte zu geben, zur Tradition der Voreltern  zurückzufinden. Nur wer die Vergangenheit am eigenen Ort kennt, kann sich in ihr zurechtfinden und seinen Anteil daran finden und für die Zukunft wirken. Erinnerung ist ein wesentliche Bestandteil der talmudischen Tradition und fundierte ihn. In einer gedankenverlorenen Gesellschaft, die vergessen hat, dass ihre schon oft auch nur noch sehr vagen Symbole auf in Vergessenheit geratene ganz konkreten Funktionen basieren, ist es eine ebenso mühevolle wie aussichtslose Anstrengung diese praktischen Funktionen wieder ins Leben zu rufen. Es mag für manchen schön sein, Schabbesleuchter zu sammeln. Aber das nutzt nichts, wenn man sie nicht benutzt. Ohne Funktion ist nur ein totes Symbol, das schön glänzen kann und teuer sein kann, damit aber auch eine gedankliche Hürde aufbaut, denn man muss nicht reich sein, um die Lichter für den Schabbes zu entzünden. Dafür reichen wenigstens zwei einfache Kerzen und heutzutage in einer zwar geschäftstüchtigen Gesellschaft, die vor einen Weihnachtsabend gerne zwei Monate Weihnachtsgeschäft als Vorlauf schaltet eventuell auch bereits etwas Courage und Unerschrockenheit. Bloße Erinnerung, Sammeln von Symbolen ist sinnlos wen es nicht zum aktiven Handeln führt.

Die Thora befiehlt uns zum Schabbes „sachor“ und „schamor“ – gedenken und bewachen, damit ist kein Schabbes-Museum gemeint, … sondern es zeigt auf den untrennbaren Zusammenhang zwischen Erinnern und Handeln. Handeln ohne Erinnern ist bestenfalls Dummheit und Erinnern ohne Handeln ist allenfalls komatös.

Abgesehen von unserer Webseite, die den praktischen Zweck, schnell effektiv und mehrsprachig viele Menschen in aller Welt zu erreichen und immer weitere neue Kontakte zu erhalten und zu vermitteln, stellen wir nichts aus und betreiben auch kein „History Marketing“. Wir sehen in der jüdischen Geschichte und ihren materiellen Überresten und ihren menschlichen Vertretern auch keine „Ware“, deren Daten unzugänglich und unter Verschluss bleiben und so offenbar schwerer zu beschaffen sind als illegale CDs mit Namen und Daten von Steuersündern. Unser Anliegen ist es deshalb unsere Forschung öffentlich erreichbar zu machen, damit Nachkommen in aller Welt freien Zugang dazu haben.  Einem Urenkel in Australien nutzt es gar nichts, wenn seine Vorfahren vielleicht in einem Buch erwähnt sind, dass mit 200 Stück Auflage in der einen oder anderen Dorf-Bücherei steht. Das sehen wir alles ganz im Sinne der Nachkommen und Verwandten, die ja ab und an auch weitverzweigte eigene sind. Thematisch sprachen wir auch für uns aktuelle Fälle wie die Eisentüre von Donauwörth oder geplante Gedenktafel am ehemaligen “Obermayer – Palais” an.

Ansonsten wollen wir dazu einen Beitrag leisten, das in Deutschland ermordete Judentum aus der „Leichenhalle Museum“ zu befreien und Impulse für eine neue Zukunft zu geben. Da nun „Talmud“, „Schächten“ oder „Beschneidung“ auch unter vielen unserer russischen Zuwanderern, die zur Wintersonnenwende gerne ein angeblich nur russisches, nun aber gar in keiner Weise christliches Fest mit geschmückten Tannenbaum im Wohnzimmer feiern, mitunter aber noch fast ekelerregende Begriffe sind, wird das zwar vergeblich sein und wahrscheinlich ist es sogar idiotisch, aber interessanter und keineswegs langweiliger als vieles anderes, was man tun kann, zumal wir als Narren ja dann auch wieder eine gewisse Art von Freiheit haben.

Der tägliche Umgang etwa mit talmudischen Speisen und Kochrezepten oder die Erforschung mittelalterlicher Schriften oder Schneiderarbeiten und Trachten geben uns immer neue Einblicke in die Lebensweisen unserer Vorfahren in der Region. Da wir nicht nach Geld, Auszeichnungen oder Titel streben, genügt es uns im Prinzip, dass wir mit der Erforschung der Geschichte auch unsere eigene Lebensqualität verbessern können und freuen uns natürlich darüber, wenn wir mit dieser einfachen Botschaft auf schwierigem Terrain andere Menschen erreichen können. Ganz im Sinne von Süßkind von Trimberg kann man sich immer noch „nach alter juden leben“ auf den Weg machen. 

The tiles at the walls of the restrooms of the former monastry and current conference hotel depict six-pointed stars. That of course graveled us somewhat, since in an historical Christian facility one rather would expect crosses … but the times are changing and now there is no timidity to exhibit Jewish symbols to the public even in a former cloister …

Essensgutschein, den uns ein Teilnehmer der Konferenz zeigte. Die Überschrift täuscht etwas über den Inhalt der Tageskarte hinweg. But as Forrest Gumps momma always said: “Life is like a box of chocolates. You never know what you’re gonna get.”

Zum Abschluss unseres Vortrages und zugleich auch um einen Einblick in einen wesentlichen Aspekt unserer Arbeit zu vermitteln trugen einen Abschnitt unseres geschätzten Pferseer Gelehrten und Gemeinde- und Landesvorsitzenden Schimon Ulmo aus einem seiner um 1700 verfassten Sechs Kapitel vor. Daraus hier zwei kleinere Abschnitte:

Es ist deshalb sehr ratsam, sich nicht mit Mächtigen einzulassen, da diese nur mit der Verwirklichung ihrer eigenen Absichten beschäftigt sind. Das erste Vorliebe ist immer ihre Stellung zu sichern und wenn sie diese doch räumen, dann nur für Ihresgleichen auf Gegenleistung. Ein tatsächliches Interesse am Wohlergehen anderer haben sie nicht. Dies hat nur zeitweilig den Anschein, wenn es ihren Interessen dient und ihnen nützlich erscheint. Das Wesen der politischen Macht besteht darin, jene die sie besitzen von den anderen Menschen im Volk zu trennen. Da mögen nun also der Bauer und der Kaufmann fleißig ihre Gulden abgeben, der Fürst wird damit grimmige und kräftige Kerle bezahlen, die mit Schwert und Pistole daran hindern mit ihrem Fürsten zu sprechen. Die Struktur der Machtposition basiert auf der Unabhängigkeit von den Untergebenen und ist mit diesen nur deshalb und deshalb nur lose verbunden. Ein Hund kann kein Schaf sein und ein Mächtiger kein guter Hirte. Jede Annäherung durch Politiker wird aus diesem Grunde von bloßem Eigennutz angestrebt. Wäre dem nicht so und wollte eine Sache tatsächlich zum Wohl anderer Menschen geschehen, so wäre mit diesen eine Gemeinschaft geschaffen und die Rangfolge aufgehoben.”

Willst du dich also der Gier entsagen zu welchem Zweck also willst du einen Rabbiner in deiner Gemeinde der reich an Bildung sein mag und arm an Taten bleibt? Er mag dir leere Worte ohne Ende predigen, aber er wird keines der Gebote der Tora für dich ausführen. Denkst du etwa, er wird dir Geld geben, damit du den Armen spenden kannst? Und so er dies auch tun würde, denkst du es würde dir im Himmel angerechnet? Denkst du dann auch es nutzt wenn er deine Kinder segnet, wenn du es nicht tust oder nicht kannst? Und mehr noch: bedarf es nicht mehr der zehn verständigen Männer um das Gebet zu sprechen oder warum wollt ihr nicht gar zehn Rabbiner anstellen, um für euch die Gebete zu sprechen und die Gebote zu erfüllen? Folge also nicht der Versuchung der Gier und diesem leeren, eitlen Streben, sondern halte dich fern von jeder Art davon und bedenke, dass es heißt, von jedem Menschen zu lernen, da er wie du im Schatten Gottes steht. Bedenke, dass jede Übertretung der Tora die nächste nach sich zieht, denn der Lohn der Übertretung ist die nächste Übertretung, der Vorteil eines Fehlers ist der nächste Fehler, der Gewinn aus der Sünde ist die nächste Sünde. So du also damit beginnst, um Anerkennung zu buhlen, so wirst du immer mehr von der Sünde getrieben.“

(All pictures by JHVA, Yakiv Samoylovych, except the first and the last six ones, which are by Yehuda Shenef)


Eindrücke aus Irsee (Ostallgäu)

November 29, 2010

Der 750 m hoch gelegene Markt Irsee ist ein kleiner Ort im Ostallgäu unweit von Kaufbeuren und mit rund 1400 Einwohnern Bestandteil der Verwaltungsgemeinschaft Pforzen. Auf dem im späten 12. Jahrhundert von Markgraf Heinrich Ursin – Ronsberg bebauten Irseer Burgberg befindet sich die mehrfach umgebaute Klosteranlage, die bis 1803 den Habsburgern unterstand. Etwa ein halbes Jahrhundert später wurde im säkularisierten Kloster eine Irrenanstalt untergebracht, die in der Zeit des Nationalsozialismus im Rahmen des sog. „Euthanasie“-Programms weitergeführt wurde. Zwar wurde die Mehrzahl der auf 2000 Menschen geschätzte Zahl der Ermordeten nicht im Haus getötet, wohl aber vom Fachpersonal und der Anstaltsleitung entsprechend „begutachtet“ und „aussortiert“.

Eine gewisse Anzahl von Personen ist freilich auch im Haus ermordet worden, etwa durch eine konsequente, konzeptionelle Unterernährung, die sog. „E-Kost“, aber auch durch gezielte, tödliche Giftspritzen. Ein inzwischen weiter bekannt gewordener Fall ist der des am 1. November 1929 in Augsburg geborenen Jungen Ernst Lossa der als Halbwaise am 9. August 1944, im Alter von 14 Jahren von den Anstaltsärzten kaltblütig ermordet wurde. Im Augsburger Stadteil Pfersee erinnert heute im Bereich der ehemaligen Sheridan-Kaserne die nach ihm benannte Ernst-Lossa-Str.

Weitere Infos zu Ernst Lossa: http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Lossa

Eine rekonstruierte Biographie: http://www.robertdomes.com/nebel-im-august/making-of/

Auf der Rückseite des weißgetünchten, sichtlich aufwendig renovierten Klosters, heute ein Konferenzhotel, das auch der „Schwabenakademie“ als „Tagungs- und Bildungszentrum Kloster Irsee“ dient, erinnert eine Skulptur an diese mit dem „Euthanasie“ (griechisch für „guter Tod“) verharmloste Verbrechen. Eine ratlos wirkende, fast achselzuckende Figur auf einer Kugel, direkt neben den nicht markierten Gräbern einiger Ermordeter scheint zu fragen: „was soll man dazu noch sagen“.

Widmungstext: “Den stummen Opfern politischer Gewaltherrschaft zum Gedenken” (“in commemoration of the silent victims of political tyranny”)

Die recht große Klosterkirche beinhaltet eine unvermutet kunstvoll gestaltete und geschmückte Kanzel aus dem Jahr 1725 in Form eines Schiffes, welche zumindest thematisch an die Bima der אכרידה‎ Synagoge im jüdischen Viertel Balat in Istanbul erinnert, insofern man diese kennt, natürlich. Die Kirche passt sich dem weißgetünchten Barockeindruck des Tagungshotels an.

Etwas gruselig und bizarr wirken jedoch die Seitenaltäre für die beiden sog. „Katakomben-Heiligen“ Candidus und Faustus, deren Skelette Ende des 17. Jahrhunderts aus Rom beschafft wurden, um sie in der Kirche auszustellen.  Dazu wurden von dem als „vornehm“ beschriebenen Grabplatz S. Cyriacae eigens Leichname längst verstorbener Römer ausgegraben und ins Ostallgäu gebracht, wo es seit Jahrzehnten bereits keine Reliquien mehr gab. Wer die Ausgegrabenen nun eigentlich waren, ist völlig unbekant. Auf dem Grabstein des Faustus etwa war keine Jahreszahl genannt, jedoch soll neben der Abbildung eines Palmenzweigs gestanden haben „S. Fausti Mart“, nunmehr gedeutet als heiliger Märtyrer Faustus … Wie auch immer schreibt der Leichenbeschaffer, dass es „große Mühen erfordert“ einen solchen „Particular-Coerper“ zu bekommen, da man solche „Heiligen“ – man stelle sich vor – nur „ungern wegführen lasse“.

the two Roman corpses from Italy exhibited in a showcase each as martyrer and saint: Faustus and Canditus

Die Leichen der in Rom ausgebuddelten Unbekannten sind in der Kirche nun stehend und mit Glas, Silber und Gold bestickten Gewändern in Schaufenstern auf- und ausgestellte Figuren. Die so recht bizarr wirkenden Skelete sind mit Drähten verstärkt, um stabil in den Vitrinen zu stehen, die ihrerseits wiederum an den Wänden von Altären angebracht sind.  Der in Irsee verstorbene deutsche Komponist Meinrad Spieß (1683 – 1761), der bereits im Alter von 11 Jahren in die Abtei Irsee kam widmete den ausgestellten Leichen sogar eigene musikalische Werke.

Die im ehemaligen benediktinischen Reichsstift umgebrachten Kinder wie etwa Ernst Lossa bilden einen eigentümlichen Kontrast zu den in weiter Ferne ausgebuddelten römischen Toten, deren mit Schwertern gerüsteten Leichen in Schaukästen ausgestellt in der weißgetünchten Kirche als Heilige verehrt und angebetet werden.

 Vor diesem augenfälligen geschichtlichen Hintergrund war die Aufgabe, die Schilderung eines lebendigen Judentums und auch seines Umgangs mit Vergangenheit und mit Verstorbenen zu vermitteln, freilich nicht leichter, zumal im Rahmen einer Konferenz über die eher museale Beschäftigung mit dem Judentum („Kultur und Geschichte“) im bayerischen Schwaben, deren Fokus nach wie vor noch eher auf dem „Holocaust“ liegt.

Irsee in the Bavarian Swabian Allgäu region in the southwestern part of Bavaria is a small village of some 1400 inhabitants, some 50 km north of world famous Neuschwanstein castle (Fuessen / Schwangau). Irsee, part of Pforzen near Kaufbeuren, is dominated by the former monastery and its twin tower church. In 1850 the cloister was converted to an asylum for mental ill people, but in the time of the Nazi-rule some 2000 patients, among them also children were murdered here and in referred camps. In Augsburg – Pfersee a street has been named after Ernst Lossa (1929-1944) who was murdered in the house by lethal injection since the Doctors were convinced that the 14 year ol boy lead a “worthless life” (“unwertes Leben”). Today the former cloister hosts an elaborately restored conference hotel and training center ,is home to the Schwabenakademie and has a variety of conferences and festivals throughout the year. The abbey church has a worth seeing ship shaped pulpit, while both side aisles of the baroque church have display windows with real corpses excavated some 330 years ago at an old Roman cemetery. The skeletons of the two unknown Romans were regarded as martyrs and therefore decorated with clothes covered with silver and gold. In the rear of the cloister and church there is a park with a memorial for the murdered victims of the so called “mercy killing” (the Greek term “euthanasia” = lit. “good death”)  with a shrugging rather helpless appearing figure balancing on a ball.

At the “Festsaal” of the cloister there now was the 22nd “Conference on History and Culture of Jews in Bavarian Swabia”, we were invited to.  

(Pictures (c) by Yehuda Shenef)