“Unsere jüdische Dichtung in diesen Tagen”

January 6, 2016

Und jeden Morgen …

Und jeden Morgen schnürst du deine Schuh,
Gehst still dem Tagwerk zu.

Und Regen rauscht an deine Fensterscheiben,
Du bist froh und weißt,
Vom Gestern wird nichts bleiben
Und nicht vom Morgen, das dir entgegen kreist.

Und Stund um Stund geht die Uhr,
Die Monde wechseln stumm in Gottes Namen;
Vielleicht wächst Neues einst aus deinem Samen,
Vielleicht lässt keiner deiner Schritte eine Spur.

Ein kleiner Wind lässt dich erschauern,
ein wenig Regen lässt dich taglang trauern
und jeden Abend bist du arbeitsmüd;

Nachtfalter sind dir Einsamen Genossen
Und eh du denkst ist alles dies verflossen
Wie ein von irgendwo gesungenes Lied …

Oh sei gelassen im Gewölk und hab Geduld,
Fühl deine Gnade tiefer noch als deine Schuld,
Wie alle, die wie du berufen sind

Zu horchen auf den grauen Schicksalswind,
zu wachen, wenn aus dumpf befangenem Schlaf
Die anderen stöhnen, weil ein Traum sie traf.

 

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Jacob Picard (1883-1967), Schriftsteller und Dichter, bekannt geworden für seine bewegenden Erzählungen zu schwäbischen Juden seiner Heimat, der Bodensee-Region, die über Jahrhunderte hinweg enge (familiäre) Verbindungen zu den Juden im Raum Augsburg hatten.

Das Gedicht „Und jeden Morgen“ wurde vor genau achtzig Jahren in der Neujahrsausgabe der Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung vom 1. Januar 1936 auf Seite 5 abgedruckt im Rahmen eines von Jakob Picard selbstverfassten Artikels über „Unsere jüdische Dichtung in diesen Tagen“.

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Jacob Picard 1883-1967(badener zeitung)

Nach bald drei Jahren Hitler-Regierung in Deutschland, wenige Wochen nach der Verkündung der sog. „Nürnberger Gesetze“ spürt man das drohende Unheil aus den Worten des Dichters, auch wenn noch Beobachtungen und Leitsätze im Blickpunkt stehen, die wir  in unserer Zeit ebenso auch auf uns selbst beziehen könnten (vielleicht auch sollten):

Worum geht es in unserer allgemeinen Situation? Es geht darum, eine Gefahr zu beseitigen, die sehr drängend ist, nämlich die, dass unser künstlerisches Schaffen durch die Zeitverhältnisse aus stofflichen und persönlichen Gründen an Niveau verliere und banalisiert werde, weil einerseits die Schaffenden fehlen, die den rechten Maßstab vertragen, und weil oft die persönliche Umgebung derer, die sich berufen halten, sie nur darum bejaht, weil sie Ihresgleichen sind und überhaupt etwas von sich geben. Auf diese Gefahr hinzuweisen, heißt schon, sie zu bannen.“

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Aber es braucht auch keineswegs einer tragischen Zeit, wie wir sie jetzt durchleben, nun zwangsläufig als ein Dichter geboren zu werden, der sie gestaltet und gerade ihren Menschen Erhebung und Trost geben kann; Gnade und Schicksal wäre es. In einer ereignislosen, gelassenen Zeit könnte einer ebenso gut, nein, viel eher kommen, der die große Tragik der Jahrhunderte gestaltet, weil durch die Ferne Verklärung des Geschehens uns wird, und Kunst auch dieses bedeutet: während andererseits in Zeiten, da das Grauen über die Erde geht, schon die Distanzlosigkeit des Erlebnisses den Zeitgenossen hemmt, es zu gestalten.“

Lo tirzach don t kill töte nicht Nürnberg Straße der Menschenrechte HebräischBiblisches Gebot “Töte nicht” in Nürnberg, Straße der Menschenrechte

Warum sollte es nicht auch unter uns …, vom engeren oder weiteren Bekanntenkreis liebenswürdig gepflegten Kitsch geben, der bekämpft werden muss! Und selbst durch die schwerste Judengesetzgebung wird einer nicht zum Dichter, wenn er es nicht zuvor gewesen ist.

Wir können zum Schicksal den Dichter nicht fordern, der uns nottut, sondern müssen geduldig warten, dass die Vorsehung uns einen schickt, der das kündet, was wir fühlen, der unser Mund sei, zugleich mit unserer Klage und Aussprache unser Trost.“

lindauer tor wangenLindauer Tor in Wangen / Allgäu