“Tipsiles und die Erfindung des Schießpulvers”

September 13, 2017

Artikel von Alexander Rupflin in der heutigen “Augsburger Allgemeinen” unter Berufung auf unsere Webseite:

Tipsiles und die Erfindung des Schießpulvers

-“Wie der Mann mit dem grünen Turban die Stadt Augsburg vor Feinden gerettet haben soll” (Serie “55 rätselhafte Orte”, Teil 49)

Auf diesem Webblog des JHVA haben wir die Geschichte des “Tipsiles” und seine historischen Hintergründe erstmals 2009 ausführlich erzählt, also vor acht Jahren. 2011 führten diese ersten Berichte zu einer Kontroverse mit der sich sogar der Augsburger Stadtrat befasste. Dabei ging es um die damals geplante Umbenennung des Pulvergäßchens. Mit Berufung auf unsere Tipsiles-Geschichte blieb der alte historische Name erhalten.

Es hat auch zumindest zwei Autoren zu eigenen literarischen Werken inspiriert:

Peter Dempf – Das Geheimnis des Tipsiles (Kinderbuch) (September 2013)

Michael Peters – Donnerkaut – das Geheimnis des Juden Typsiles (Roman) (November 2014)

 

 


Die Augsburger Legende des Tipsiles

August 30, 2011

 

“Alt – Augsburg” (Titel)

 

Über die epochale wie weitreichende Erfindung des Schießpulvers haben sich schon viele Gemüter ihren Kopf zerbrochen, Stadtschreiber, Gelehrte, Waffenkundler, Hobbyhistoriker und viele andere, zuletzt auch wieder Augsburger Stadträte mit deren weit zurückliegenden Amtsvorgängern die Legende des Tipsiles vor fast sieben Jahrhunderten ihren Anfang nahm. Im ersten Band seiner „Kunst-, Gewerb- und Handwerksgeschichte der Reichs-Stadt Augsburg“ von 1779 notiert Paul von Stetten (der Jüngere) über die Erfindung der Feuerwerkskunst: „Das merkwürdigste aber ist, was Clemens Jäger und andere Chronikschreiber (dazu) angeben, nämlich dass durch einen hiesigen Juden, mit Namen Tibsiles, im Jahre 1353, das Pulver erfunden worden seye: doch will ich diese Nachricht auf ihren Werth und Unwerth beruhen lassen, da es ganz unbekannt ist, wo sie dieselbe mögen hergenommen haben.“ Mit dieser Anmerkung und dem Verweis auf die Chronik des Clemens Jaeger beließ es Paul von Stetten. Vielleicht etwas zu Unrecht, gilt Clemens Jaeger (ca. 1500 – 1561) in zahlreichen anderen Fällen städtischer Geschichtsschreibung als äußerst verlässlicher Gewährsmann und Quelle. Berühmte Beispiele dafür sind etwa seine Weberchronik, aber auch seine Konsulats-, und jüngst auch beachtete Vogt- und Ehrenbücher. Jaeger war wie seine nach Augsburg zugewanderte Familie vom eigentlichen Beruf Schuster und wurde 1527 Meister seines Fachs und gehörte später als einer der „Zwölfer“ der Schuster dem Stadtrat an und wurde hernach als Ratsherr, gefördert von Johann Jakob Fugger (1516 – 1575), von der Stadt mit der Neuordnung des  „verwahrlosten“ (Augsburger Allgemeine vom 14. April 2011) Stadtarchivs betraut. Seine Arbeiten prägten die Augsburger Geschichtsschreibung bis ins 18. Jahrhundert, sind aber an manchen Stellen, mangels überlieferter Quellen, heute mitunter auch umstritten. Das ist nicht weiter verwunderlich, da Jaeger als Humanist wie andere Autoren seiner (wie genau genommen jeder) Zeitepoche selbstverständlich auch politische Absichten verfolgte. So hatten einige Chronisten beispielsweise die Absicht, die Gründung der Stadt in Zeit Trojas zurückzuverlegen; etwas was bei damaligen Humanisten allgemein angenommen und behauptet wurde – freilich auch im Kampf mit der katholischen Kirche, die wiederum auch ihre Probleme hatte mit Herkules- oder Merkur gewidmeten Brunnen. Da dies Jaegers Verdienste um die Augsburger Zunft- und Ehrenbücher keineswegs schmälert, bleibt wie so oft im Einzelfall nur übrig die jeweilige Plausibilität als Maßstab. In Bezug auf Tipsiles als Erfinder des Schießpulvers bedeutet dies auch nichts anderes als festzustellen, dass die Nachricht darüber seit mehr als viereinhalb Jahrhunderten in Augsburger Stadtchroniken enthalten ist, darunter auch in älteren anonymen anderen. Als Zeitpunkt des Geschehens nennt Clemens Jaeger das Jahr 1353, was wahrscheinlich auf einem Lesefehler beruht, und wohl 1323 meint, da andererseits auch gesagt wird, der Jude mit dem grünen Turban sei bei den Ausschreitungen gegen die Juden ums Leben gekommen. Damit gemeint kann offensichtlich nur der Angriff auf die jüdische Gemeinde im „Pestjahr“ 1348  gemeint sein. Freilich kann er andererseits wohl auch nicht fünf Jahre vor seiner Erfindung getötet worden sein.

Der aus Oettingen stammende Antiquar, Journalist und „Lokalhistoriker“ August Vetter (1862-1923), dem in Pfersee bekanntlich eine Straße gewidmet ist,  hatte in seinem Feuilleton „Unter dem Strich“, das jahrelang in der „Neuen Augsburger Zeitung“ erschien, eine große Anzahl bekannter und unbekannter Geschichten aus Augsburgs langer Geschichte (nach)erzählt, darunter befindet sich auch seine Fassung der Tipsiles-Geschichte, die er freilich (korrekt) in das erste Viertel des 14. Jahrhunderts datiert:     

  

Will man aus der Augsburger Kriegsgeschichte etwas niederschreiben, so darf man eigentlich gar nimmer aufhören. Denn Krieg und abermals Krieg erfüllt, wie wir wissen, die lange, ruhmreiche Vergangenheit. Dass da wohl etwas geleistet wurde, ist begreiflich, und dass die allzeit wackeren und wehrhaften Augsburger sich wohl zu rüsten verstanden, ist bekannt. Das bestätigte jede Zeile in ihrem umfangreichen Geschichtsbüchern. Waffen- und Helmschmiede gabs die besten im weiten Deutschen Reiche; vor bald einem Jahrtausend wurde eine damals mächtige Stadtumwallung durch den großen Bischof St. Ulrich befohlen und angelegt. Aus welchem Grunde dies geschah, ist hinlänglich bekannt.

Es war auch so im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts. Da ging auf einmal das Gerede, dass droben um St. Ulrich rum einer in einem Dachstüblein hause, der mehr könne, denn Brot essen. Mein Gott, allhier zu Augsburg wohnten gar viele Fremde. Da konnte man nicht jedem so in die Suppenschüssel schauen. Die Leute waren an das Geschäften gewöhnt; wenn einer nur brav seine Abgaben entrichtete, so durfte er so im allgemeinen machen, was er wollte. Man war da nicht so ängstlich. Aber wie gesagt, von dem Fremden da droben gingen allerlei Gerüchte um. Von St. Ulrich runter liefen sie in das „Jörgemer-Gäßle“, und in der jungen Vorstadt um St. Jakob wusste man sich allabendlich auf den schmierigen Bierbänken schaurige Dinge zu erzählen. Nur ein Glück wars, dass es zur damaligen Zeit noch keine Kaffeeschwestern gab, sonst wäre das Unheil gar fertig gewesen.

Es reichte sowieso schon. Also, was man so hörte, war ganz eigener Art. Der geheimnisvolle Mann droben hinter St. Ulrich, der sei weit hergekommen, aus dem Morgenland; es müss‘ aber kein Christ sein, – ein Heide oder ein Jude oder ein Mohammedaner. Wie gesagt, sonst halt nichts „Richtiges“. Einen langen Bart trag‘ er, und um den Kopf hab er ein dickes grünes Tuch gewickelt, auch bei der größten Hitze. Und so sitze er vor einem feurigen Ofen Tag und Nacht. Nicht einmal schlafen tät er. Und wenn er sich hinlegt, schlaft er auf dicken Rollen und Büchern von Pergament. Darauf stünd allerhand gar verwunderliches Zeug, was nicht einmal die hochgelehrten Herren vom Reichsstift drüben zu lesen vermöchten.

Dass der Mann mit seinem grünen Kopftuch und seinem langen Bart nicht verschlafe auf seinen pergamentenen Büchern und Rollen, dafür sorge sein Geselle. Das sei ein noch merkwürdigerer Kauz. Den hab überhaupt noch niemand richtig gesehen. Nur drüben ein Nachbar und sein Weib, die zwei konnten den kuriosen Kerl hie und da durch die Dachluken oder sonst beobachten.

Mit dem müss es überhaupt nicht richtig sein, sprachen die zwei. Anstatt zu schlafen, spazier der nächtlicher weil auf dem Dachfirst umeinander, geradeso wie ein verliebter Kater. Sei der Kauz nun lang genug auf dem Dachfirst umeinander stolziert, dann krabble er auch noch an der eisernen Fahnenstangen hinauf, so wie ein Eichkätzle droben in des Bischofs Au. Da bleib er allemal lang hangen, stundenlang oft, und zieh eine Flöte heraus und blas ein Liedlein, eins ums andere. Die wären aber ganz eigen, dass sich der Herr Nachbar und die Frau Nachbarin oft gar die Ohren zuheben. So wild tät die Flöte, und der Wetterfahnen drehe sich dabei oft ringsherum im wilden Ringelreihen, gleich gar, dass es Funken gäb.

Dass es mit so einem Gesellen eine verwunderliche Art habe, das lag doch auf platter Hand, sprachen die Nachbarn, und die anderen sprachen es tapfer nach, dass es in der ganzen Stadt herum kam und auch drüber hinaus bis zu den Bauern im grünen Schmuttertal und noch weiter. Der seltsame Kauz auf der Wetterfahnenstange in der Nacht blase Wind und Wetter zusammen, so wie’s sein Herr drunten im Dachstüblein benötige.  Und noch so mancher andere!

Selbige Mär von so geheimnisvollen Dingen kam auch einem hochwohlweisen Rate zu Gehör. Und er vernahm es mit großer Verwunderung. Dieweilen aber zu derselben Zeit auch die reiche Stadt von einem neidischen Feind bös bedrängt wurde und zeitenweise schier keine Aussicht vorhanden war auf Hilf‘ aus schwerer Bedrängnis, so gabs etliche Köpfe unter denen vom Rat, die vermeinten man könne ja den gelehrten Fremden in seinem Dachstüblein einmal befragen, ob der nicht Hilfe in solcher Not wüsst‘. Hab man doch gehört, wie die Alten solche Mittel erfunden hätten, wie sie sich in solchen Fällen an Gelehrte wendeten und dergleichen mehr. Das sei gescheiter, als dass man sich an das Geschwätz der Leute lehne, oder dass man gar mit einer peinlichen Frage an den fremden Mann herantrete.

Nun, in Gottes Namen, in der Not tut man viel. Und es begab sich, dass eine Abordnung hinauf zu dem Manne mit dem grünen Kopftuch und dem weißen Vollbart. Da wars hoch hinauf, und die Herren mussten auf den hölzernen Stieglein manchmal absetzen und verschnaufen. Aber was tut man nicht dem Vaterland zuliebe! Sie klopften an und ein Riegel war zurückgezogen. Darauf standen sie drinnen in dem engen, verräucherten Stüblein, von wo man über die steilen Dachgiebel hinüberschaute bis hinauf zu des Herrn Bischofs Au und zum wilden Alpengebirge.

Der fremde Mann mit dem grünen Kopftuch war nicht unfreundlich, sprach zuerst einen Segensgruß ganz gut in deutscher, fast in Augsburgischer Sprach‘ und hörte das Begehren der Herren vom Rate an. „Ob er nicht was wüsst‘, womit man dem grimmigen, neidischen Feind beikommen könnt‘, besser denn mit Speer und Lanze und mit der Wurfschleuder und dem Kieselstein.“ Da erhob sich der Mann, stellte von Messing einen Mörser, womit die Frauen in der Küche Nüsse und Kirschsteine stampfen, auf einen Tisch, füllte den Mörser mit allerlei Pulver, tat darauf einen Stein und öffnete das Fenster davor. Darauf holte er einen glimmenden Span vom Herd, wo allerlei Flaschen und seltsame Gefäße standen, und entzündete damit das Pulver und den Mörser. Darauf tat es einen Blitz und einen Schlag, gleich als ob das Wildfeuer vom Wolkenhimmel herniederfahre. Und die Herren vom Rat erschraken und schlugen als fromme Christenmenschen ein Kreuz um das andere. Einer wollte sogar schon zur Stubentür hinaus, dieweil der fremde Mann dem gütigen Himmel Blitz und Donner entrissen. Wie sich aber der Rauch verzogen hatte, da wurden sie gewahr, wie drüben der Wetterfahnen aus Blech ein großes Loch bekommen hatte. Das tat die Gewalt des Steines, den das seltsame Pulver mit Blitz und Donner aus dem gelben Mörser geschleudert hatte.

„Es ist eine arge, diabolische Kunst, Meister, die Ihr uns da gezeigt“, sprachen die hochwohlfeilen Herren vom Rat. „Aber auch diabolisch grimmig ist des Feindes Hinterlist und Rachsucht! Darum werden wir beschließen, dass Ihr, o weißer Meister, diese Eure Kunst in den Dienst unserer hartbedrängten Stadt stellen möget. Kommet, sobald ihr es vermögt, ehender heut‘ denn morgen, auf unser Rathaus. Dort könnt Ihr in einem festen Gewölb Eure Experimenta zu gemeinem Nutz und Frommen fortsetzen.“

Des war der Mann mit dem grünen wohl zufrieden und versprach sich einzufinden, wenn das Gewölb gerichtet wär, und wann sein Stüblein ausgeräumt. Zuvor müsse er aber noch seinen Gesellen rufen, der droben auf des Daches First Auslug nach Wetter und Gestirnen hält. Wie er bald darauf eintrat, ein wilder Geselle mit wirrem Haare und glutfeurigen Augen, war alsbald das Stüblein geräumt und Flaschen und Mörser und die Ingredienzien heruntergetragen, auf einen Karren geladen und geschoben nach einer hochlöblichen Stadt Rathaus. Da machte in einem festen Gewölb der fremde Mann mit dem grünen Kopftuch seine Experimenta weiter. Das brachte, als ob der Donnergott selber Einzug gehalten hätte in ein hohes Rathaus. Und wenn der liebe Mond zu nachtschlafender Zeit die Dachgiebel beschien, dann stand der wilde Geselle hoch droben auf dem höchsten Giebel und pfiff ein böses Liedel, dass der Wetterfahnen wirbelte und Funken stoben, wie wenn die Kutsche des ehrsamen Rates über die Stein bei der Domherren Haus rumpelte.

Aber die Experimenta des fremden Mannes machten wohl gute Fortschritte. Auch ließ ein hoher Rat Rohre gießen, aus denen der Blitzstrahl und der und der Stein fuhren mit einer Gewalt als der wildeste Feuerstrahl vom Wetterhimmel. So wars gut.

Denn nun kam die Zeit, dass man die Probe auf das Exempel machte, Und die fiel besser aus, als man erwartet hatte. Dafür sollte auch ein hoher Lohn für den Mann, der mit seinem Wissen die Stadt vor großer Not befreite, nicht ausbleiben. Ein hoher Rat beschloss, dem weisen Fremdling ein eigenes Plätzlein, aber abseits von den Behausungen derer vom Rat, anzuweisen, schon wegen des wilden, verwegenen Gesellen und des Blitzens und Donnerns aus den Feuerschlünden. Darauf zog der Fremdling hinunter in die Gegend, wo der Stadt Scharfrichter wohnte, und wo, wie die Leute sagten zu damaliger Zeit, „Hund und Katz‘“ einander gute Nacht sagen. Das ist das heutige „Pulvergäßchen“.

Der fremde gelehrte Mann mit dem grünen Kopftuch und dem weißen Vollbart war ein Jude und hieß Tibsiles. Aus dem fernen Morgenland war er hergekommen, wo er vor den Horden des wilden Sultans fliehen musste.

Es brachen hier zu Augsburg andere Tage an. Ein wilder Aufstand erhob sich in der guten Stadt, als ein verführtes und übelberatenes Volk den Juden arge Missetaten in die Schuhe schob. An einem solchen Tag fiel auch der weise, edle Tibsiles als ein Märtyrer, verraten von seinem wüsten, wilden Gesellen. Der hab noch lange Jahre und Jahrzehnte danach als böser Geist auf den Dächern und Dachböden gespukt.“

 August Vetter:  Alt – Augsburg – eine Sammlung von Sagen und Geschichten aus Augsburgs Vergangenheit, 1. Band, Literarisches Institut Haas & Grabherr Augsburg, 1928, S. 162 ff.

 

 

 


Das Augsburger Pulvergäßchen bleibt erhalten

August 29, 2011

Kurzbericht der “Augsburger Allgemeinen” zur Entscheidung des Augsburger Stadtrat, dass es auch künftig beim mittelalterlichen Straßennamen Pulvergäßchen bleiben soll, nebst Erklärung dazu, wie sich der entscheidende “Ferienausschuss” zusammensetzt. Unser Dank gilt dem Augsburger Stadrat und insbesondere den “Freien Wählern” für ihr Engagement.


Verschießt Augsburg sein Pulver ..?

August 15, 2011

Überraschend für uns beriefen sich vor kurzem die “Freien Wähler” aus Augsburg (denen durchaus unsere Anerkennung für ihre Wachsamkeit gilt) auf einen zwei Jahre alten, ansonsten nur in der englischen Fassung gelegentlich beachteten Bericht über die Zuordnung der städtischen Legende des Tipsiles als Erfinder des ersten waffenfähigen Schießpulvers in Augsburg. Freilich interessiert sich in Augsburg auch weiterhin niemand für David ben Josef Ha-Tiplisi (1279-1359), noch nicht mal so recht für die kleine Figur mit grünem Turban in der St. Anna – Kirche, die seltsam genug zur Legende passt …  

Anlass war/ist, die geplante Umbenennung des Pulvergäßchen zu Ehren einer anderen, offenbar wesentlich glaubhafteren Legende, nämlich der des seitens der katholischen Kirche 1737 heiliggesprochenen Franzosen Vincent de Paul (1581-1660), der heute als “Begründer” des freilich dann doch erst 1897 entstandenen Caritas angesehen wird. Die Heiligsprechung (oder: Kanonisation) basierte nach katholischem Recht , da es sich bei Paul nicht um einen Märtyrer handelte, auf einem nachgewiesenen “Wunder”, ein “Heilungswunder”, sprich auf mindestens einem angezeigten  “Wunderheilung” das von klerikalen Prüfern in einem umständlichen Verfahren beglaubigt worden sein musste. Eine solche Wunderheilung muss eine medizinische durch Ärzte, Pflege, Ruhe, usw. ausschließen, sondern muss auf dem Gebet eines Kranken beruhen, der sich gedanklich an den Toten wendet und dessen Bitte um Heilung durch den angebeteten Toten vermittelt wird.  Untersucht wurde dazu auch sein zu diesem Zweck eigens zweimal exhumierter Leichnam, der danach (lange vor Lenin) und bis heute in Wachs gegossen in einem gläsernen Sarg in einer Kirche ausgestellt ist, während sein Herz abseits von seinem wachsenem Leichnam in der Zentrale des Vinzentinerinnen-Ordens in Paris getrennt aufbewahrt wird. Augsburg hat der französische Priester und Missionar nie betreten.

Nach dem Stadtrat in Augsburg befasste sich auch die Augsburger Allgemeine mit einem kurzen Artikel mit der Auseinandersetzung, stellt dabei freilich nicht etwa Legende gegen Legende, sondern den “Heiligen” gegen den “Juden”. Da dies in Augsburg keine synonymen Begriffe sind, darf man eine gewisse Voreingenommenheit unterstellen.

Die im Artikel auch wieder zitierte Einschätzung, das Pulvergäßchen habe eine “geringe historische Bedeutung” und die Pulvermühle dort nur von 1398 bis 1434 bestanden, basiert auf einer einzigen zudem ungenauen Quelle und wurde von zahlreichen anderen, auch städtischen Autoritäten widerlegt.

Der Augsburger Stadtarchivar Theodor Herberger, schreibt vor rund 150 Jahren in seinem Buch „Augsburg und seine frühere Industrie“,“…, daß kaum eine andere Stadt gerechtere Ansprüche auf die Fabrikation des Schießpulvers und das Gießen der ersten Kanonen machen konnte, als Augsburg“.

Seine heutigen Amtsnachfolger im Augsburger Stadtarchiv sind nun wahrscheinlich aufgefordert, Herberger und allen anderen früheren Autoren ihren “Irrtum” nachzuweisen, zugunsten eines auswärtigen Heiligen, dem ein bereits zugestandener Straßenname angeblich nicht genügen soll. Freilich wurden gemäß der Stadtbücher in den 1370er Jahren mehrfach Kosten für Büchsen, Schießpulver, Mörser und gegossene Kugeln mit Salpeter und Schwefel verrechnet, was alles keinen rechten Sinn ergibt, wenn erst 1398 eine Mühle entstanden sein soll. Zahlreiche andere Autoren gehen davon aus, dass in Augsburg schon um 1340 eine Pulvermühle bestanden haben soll, jene eben, die die Legende dem Tipsiles zuschreibt, der zu dieser Zeit in Augsburg gelebt haben soll.  

Im Volksmund zeugt die Redensart, „das Schießpulver nicht erfunden haben“ von mangelndem Scharfsinn, weitere Sprichwörter besagen, dass jemand sein „Pulver bereits verschossen“ hat oder „keinen Schuss Pulver wert“ sei. Alles deutet auf praktische Intelligenz, die man hat oder nicht. Diskussionen die sich kaum lohnen, wenn manche heute die Realität etwa danach beurteilen, was bereits bei wikipedia eingetragen ist oder nicht begreifen können, dass es abseits von Zusammenfassungen geläufiger Taschenbücher, Geschichte im Detail doch anders gestaltet geben kann.

Das zeigt sich praktisch auch an anderer Stelle, etwa beim Judenberg, der von intelligenten Leuten in dieser Stadt als „zu hässlich“ angesehen wird und nun zum „Kunstberg“ werden soll, wohl weil auch heute noch das Wort „Kunst“ in den Ohren mancher einen viel besseren Klang hat als das Unwort der Jahre 1933-45 … „Juden“.  Dass Mietek Pemper seligen Angedenkens dort über ein halbes Jahrhundert lebte und sich trotz der finsteren Vergangenheit auch wegen mancher einzigartiger Highlights in der mittelalterlichen Augsburger jüdischen Geschichte , die er gut kannte und schätzte, wohl fühlte, kommt Leuten, die hoffen nur etwas vom eingebildeten Hollywood-Glamour abzukriegen oder christliche Kränze auf sein Grab werfen nicht in den Sinn kommen will.

Artikel der “Augsburger Allgemeinen” Mittwoch, 10. August 2011, S. 38 zum Pulvergäßchen

The city council of Augsburg – in a non-public session – recently had to decide to rename the small Pulvergassel in Augsburg after Vincent de Paul, a legendary French saint whose corpse is exhibited in a glas case in a Paris church while his (physical) heart is in another. Since the current name refers to a medieval powder mill and thus probably also to the legend of “Tipsiles” as first time inventor of weapon grade gun powder (as mentioned also in the Jewish Encyclopedia) there now is a controversy in the council as well as in local papers and polemical commentaries in blogs and discussion groups, whether old reports who held Augsburg in 1340 for the oldest gunpowder fabrication locality in Germany or even Europe are true or if these just are fairy tales invented by Jewish “pseudo-historians” as already anti-Semite Adolf  Stoecker pointed out a hundred years ago. However, obviously of course a faith healing Catholic saint fits much better in Augsburg’s “advertising strategy” to promote as “City of Peace” , but does it mean that all reminiscences or remnants which may conjure up wartime memories miraculously will vanish as the bunny in the top hat ..? In our opinion it does not matter what name the small back alley has. In case of war Augsburg will not be bombed because there was a gunpowder mill in early 14th century and in cases of any epidemic Vincent de Paul also will not work any wonder. History is history and dealing with (own local) history is history as well.

Augsburg in fact was regarded as first or among the first major places of fabrication of weapon grade gun powder as umpteen older books maintain. The fact that local legends refer the invention to a Jew is somewhat unusual and a sophisticated population would be proud of it to have other than Holocaust related stories in their history, but obviously there still is a far bigger lust and hunger for miracles and wonders, … so if one street name for Vincent de Paul is not enough, so give him five.

The local newspaper already opposes “the saint” and “the Jew”, so you all may guess what the decision (wanted) will be, knowing that both terms also in current German – for what reasons ever – still are anything but equivalent.  😉 

בסמטה קטנה בהתייחסו אגדה מימי הביניים של ממציא יהודי של אבק שריפה אוגסבורג, עכשיו יהיה שמם לאחר כומר קתולי מצרפת


Tipsiles the Jew as inventor of gunpowder in mediaeval Augsburg

July 9, 2009

This Shabbes marks the 650th death-day of Karaite Jew David-ben-Josef ha-Tiplisi (1279 – 1359)- aka “Tipsiles” or “Typsiles” – who at the request of the municipal leaders in the first quarter of the 14th century (another source states the year 1353, what is less likely ) legendarily invented in Augsburg  gun-powder and early cannon.

Of course there are quite a lot of different stories relating the invention to “Greek fire”, “the” Chinese, to Alchemists as Roger Bacons and the like, but the Augsburg legend obviously is the only one which directly affects the invention of the gun-powder on a weapon grade level, what isn’t the case with any others. Without  known reference to “Tipsiles” there also is a legendary Hebrew scripture ספר כיבוש (Book of Conquest and Siege) which reportedly has ilustrations and Hebrew descriptions of siege weapons in a large variety. However no known copy has survived.

15th century illustration (now at Vienna Hofmuseum)

15th century illustration (now at Vienna Hofmuseum)

 

As a Karaite Jew from “the Eastern World” David lived apart from the Jewish quarters of the mediaeval Imperial City of Augsburg and his practice to wear a green turban on his head made a great stir. The urban legend reports that Tipsiles (or Tibsiles who also is supposed to be the first maker of paper and the city’s pharmacist) was amply rewarded with a piece of ground in the northeastern part of the then expanding city suburb of “Jakobervorstadt” . The street name “Pulvergaesschen” (lit. powder alley) is said to go back to it. Maybe the reference of a David mentioned in a deed of 1323 (David received the sum of 120 Augsburg Pfennigs and another 76 the following year) confirms the presence of Tipsiles, but of course David would not be entirely sufficient to serve as a proof.

Illustration from the "Book of Fireworks", Augsburg 1529

Illustration from the "Book of Fireworks", Augsburg 1529

Another likely relic however might be a small figurine fixed at a wall in St. Anna Chapel (built in 1321), which depicts the head of a red bearded  man wearing a green or greenish blue turban. The small sculpture only in late 19th century was found at construction works under the flooring of the Chapel of the Hirn family which is the oldest part of the Church. Since there are no other known stories of people wearing greenish turban in mediaeval Augsburg, there probably unavoidable is a connection to the “Legend of Tipsiles the Jew who invented Gun-powder” (even if it was the other way around).

maybe it is Tipsiles maybe it's not

maybe it is Tipsiles maybe it's not


Wie der Jude Tipsiles in Augsburg das Schießpulver erfand

July 8, 2009

Nur wenige technische Neuerungen haben die Welt so nachhaltig geprägt und verändert wie die Erfindung und Anwendung des Schießpulvers (längst nicht nur für militärische Zwecke). Kein Wunder also, dass sehr viele diese Entdeckung für sich beanspruchen wollen. Unter den zahlreichen Überlieferungen führt eine Spur auch ins mittelalterliche Augsburg und dies durchaus mit einer gewissen Plausibilität.

 

Die frühesten Vermutungen  gehen auf China zurück. Die freilich meist wenig spezifizierten Andeutungen auf eine „chinesische Erfindung“ entpuppen sich bei näherer Betrachtung in der Regel als wenig überzeugend. Zwar werden bereits für das Jahr 1044 ominöse Brandsätze erwähnt, doch ist dabei nicht nur die Datierung fraglich, da das als Quelle angeführte Werk namens „Wu Ching Tzung Tao“ in seiner frühesten Kopie erst in der Ming-Zeit um 1550 überliefert ist, als in Europa sozusagen längst aus allen Rohren geschossen wurde. Eine nachträglich Rückdatierung ist nicht ausgeschlossen und auch nicht unwahrscheinlich. Im Text selbst ist nun das sicher nicht grundlos als anrüchig empfundene Kampfmittel mit dem vielsagenden Namen „fên phao kuan fa“ erwähnt, was als „Fäkalien-Schleuderbombe“ übersetzt wird. Zur Herstellung nimmt man der Beschreibung gemäß reichlich getrocknete und fein gemahlene menschliche Fäkalien, etwas Öl des Tigli-Baums, eine Brise Arsensulfid und dergleichen mehr. Wie auch immer, ist es unstrittig, dass es in China auf dieser Basis zu keiner waffenfähigen Entwicklung gekommen ist .

Neben „den Chinesen“ wurde oft der Freiburger Franziskaner Bertholdus Niger als Entdecker genannt, der je nach Quelle 1353 oder 1359 das explosive Pulver gemischt haben soll. Mehr noch soll sogar sein ins deutsche übersetzte Name Schwartz namensgebend für das Schwarzpulver gewesen sein. Das freilich ist historisch nicht aufrechtzuerhalten, da bereits 1326, also rund drei Jahrzehnte zuvor, der Einsatz waffenfähigen Schießpulvers in Europa zweifelsfrei belegt ist. Zudem stammt die Bezeichnung Schwarzpulver erst aus dem 19. Jahrhundert und diente zur Unterscheidung des dunklen Pulvers zur Abgrenzung eines neu entwickelten weißen auf der Basis von Cellulosenitrat. Gleichwohl die Freiburger ihrem legendären Mönch sogar ein Denkmal setzten, scheidet er als Entdecker des „Donnerpulvers“ selbstverständlich aus.

Als zweifellos ernsthafterer Anwärter lässt sich jedoch Nigers franziskanischer Kollege Roger Bacon (1214 – 1292) erwägen. Der aus dem englischen Ilchester bei Somerset stammende „Universalgelehrte“ ist als origineller Denker überliefert, seiner Zeit in manchem augenscheinlich weit voraus. Er erkannt u.a. die Gesetze der Reflexion und der Strahlenbrechung und hatte, für einen Menschen des 13. Jahrhunderts sicher ungewöhnlich, auch zumindest vage Vorstellungen von Unterseeboten, Flugmaschinen, komplizierte Hebevorrichtungen und durch Radantrieb funktionierende Wagen und Schiffe. So man ihm all dies oder Teile davon nicht posthum angedichtet hat, ist es verständlich, dass er später im Ruf stand eine Art “Seher” gewesen zu sein. 

Um 1250 erwähnte Bacon demnach in seinem Traktat „De secretis operibus artis et naturae“ die Herstellung eines Pulvers aus Kaliumnitrat, Holzkohle, Schwefel und Salpeter, was in der Zusammensetzung als ältester literarischer Nachweis des Schwarzpulvers gilt. Bei aller Fortschrittlichkeit in seinem Denken war Bacon trotzdem jedoch ein Kind seiner Zeit und im Glauben an Magie und Geister verhaftet. So versuchte er als Alchemist ernsthaft Gold herzustellen, um mittels der hermetischen Kunst dem Königshof die nötigen Geldmittel zu beschaffen, was auch heute ein Ausweg aus finanziellen Krisen wäre. Offenbar blieb es aber nicht nur damit beim theoretischen Ansatz, denn noch 1267 schrieb Bacon in einem Brief an den Bischof von Paris über die Herstellung es oben beschriebenen Pulvers und beklagte, dass er kein optimales Mischungsverhältnis finden konnte. Heutige Historiker hingegen kämpfen mit der Deutung komplexer Anagramme und Bacons kryptischen Formelsprache, von denen spätere wie zeitgenössische Okkultisten behaupten, dass sie nur “Eingeweihten” zugänglich seien. Bezeichnend ist wie auch immer jedoch das Fehlen jeglicher Berichte über die Entwicklung eigentlicher Schusswaffen im örtlichen wie zeitlichen Umfeld zu Roger Bacon.

Die ersten Feuerwaffen dürften relativ primitive Konstruktionen gewesen sein. Einfache Rohre und vasen- bzw. büchsenförmige kurze Geschütze in Mörserform jeweils mit verstärkter Pulverkammer, in das ein Zündloch gebohrt oder beim Guß bereits vorgesehen war, erschöpften anfangs die Variationsbreite. Die Zündung erfolgte mit dem Glüheisen. Die ersten Büchsen waren relativ kurz, und lange, schlanke Rohre (Schlangen, Basilisken) wurden erst im 15. Jahrhundert üblich.“ 

(- Karl Georg Zinn – Kanonen und Pest – über die Ursprünge der Neuzeit im 14. Und 15. Jahrhundert, Opladen 1989, Anm. 252)

 

An diese vermutlich authentischen Grundlagen knüpft eine weniger bekannte Augsburger Legende an, die freilich eine Reihe von bemerkenswerten Umständen beinhaltet und letztlich sogar auf eine konkrete Person zurückgeführt werden kann.

Im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts, so berichtet die Erzählung, habe ein fremdartiger Neubürger durch seine äußere Erscheinung für einiges Aufsehen in Augsburg gesorgt, wo er nahe bei St. Ulrich in der heutigen Maximilianstraße wohnte. Der bärtige Mann trug auf seinem Kopf einen grünen Turban und da dies – heute wie damals – in Augsburg kein geläufiger Anblick war, machten sich die Leute zahlreiche Gedanken darüber, wer dieser Mann war und wo er wohl herstammen mochte. Zusammen mit seinem dunkel gekleideten und zudem noch finster dreinblickenden Diener hatte er die Angewohnheit nachts auf dem Dach seines Hauses herumzuspazieren und den Himmel zu beobachten oder Blitze zu fabrizieren. Die Gerüchte über den vermeintlichen Zauber drangen schließlich auch zum Rat der Stadt, der sich freilich mit anderen Problemen befassen musste, wurde Augsburg doch von äußeren Feinden bedroht. Die pragmatischen Schwaben gaben deshalb wenig auf das Geschwätz der Leute und „so gab’s etliche Köpfe unter denen vom Rat, die vermeinten, man könne ja den gelehrten Fremden in seinem Dachstüblein einmal befragen, ob der nicht Hilfe in solcher Not wüßt‘.“ 

Bei ihrem Besuch in der Dachstube des Mannes entdeckten die Räte sodann zahllose Bücher, Schriftrollen und eine Unmenge an Flaschen und Behälter jeder Art. Auf die Frage, ob er dazu in der Lage sei, den Augsburgern eine Waffe zu schaffen, mit welcher man dem „grimmen, neidischen Feind“ beikommen könne, bot der eigentümliche Mann mit dem grünen Turban ihnen eine sofortige Demonstration. Er mischte in einen Mörser verschiedene Pulver zusammen, legte einen Stein darauf und trat damit ans Fenster. Dort entzündete er das Pulver und sofort gab es „einen Blitz und einen Schlag als ob das Wildfeuer vom Himmel herunterfahre“.  Die Ratsherren erschraken selbstverständlich und wollten fast die Flucht ergreifen, doch als der Rauch verflogen war, beobachteten sie, dass draußen eine blecherne Wetterfahne ein großes Loch aufwies: „Das tat die Gewalt des Steines, den das seltsame Pulver mit Blitz und Donner aus dem gelben Mörser geschleudert hatte.

Wieder pragmatisch verstanden die beeindruckten Stadtherren, dass was sie erschrak auch andere erschrecken konnte und so baten sie den Meister, so bald es ihm möglich wäre zum Rathaus der Stadt zu kommen, um weitere Demonstrationen seiner fürchterlichen Kunst zu geben. Dort vollzog er mit seinem Diener weitere Experimente und der Rat ließ nach den Angaben des Fremden Rohre gießen, aus denen sodann „der Blitzstrahl und der runde Stein fuhren mit einer Gewalt als der wildeste Feuerstrahl vom Wetterhimmel.“

Da der Fremde die Stadt mit seiner Waffe aus der feindlichen Bedrängnis rettete, blieb die Belohnung nicht aus und so schenkte man ihm ein Grundstück in der damals noch kaum besiedelten nördlichen Jakober Vorstadt, woran die heute noch erhaltene Straßenbezeichnung Pulvergäßchen erinnern solle. Das besagte Grundstück dürfte demnach etwa dem Areal des ehemaligen Hauptkrankenhauses  entsprechen. Der Legende gemäß handelte es sich bei dem rätselhaften Fremden mit dem grünen Turban um einen Juden namens Tipsiles. Dieser sei mit seinem Diener Ismael auf der Flucht vor „den wilden Horden des Sultans“ nach Augsburg gelangt.

 

Man muss sich nicht in Lokalpatriotismus üben, wenn man feststellt, dass man der „Legende von Tipsiles, dem Juden der in Augsburg das Schießpulver erfand“ eine gewisse Plausibilität nicht absprechen kann. Die Datierung der Erzählung in das erste Viertel des 14. Jahrhunderts ist zeitnah zum tatsächlich überlieferten historischen Geschehen.  Der Einsatz von sog. Bombarden – primitive Vorläufer späterer Kanonen, die aus röhrenförmig geschmiedeten Stahlplatten bestanden, die mit Metallreifen verstärkt wurden – ist bereits um das Jahr 1340 bezeugt. Doch bereits aus dem Jahr 1326 stammen die ersten bildlichen Darstellungen von Feuerwaffen, die zwei Jahre zuvor, also 1324 in den Kämpfen um die Stadt Metz zum Einsatz gekommen sind. Der englische Kleriker Walter de Milimete aus der Grafschaft Cornwall, bildete dabei in einer Illustration seiner heute in Oxford aufbewahrten Handschrift mit dem Titel „De Officilis Regum“ (Die Pflichten des Königs), die er für Edward III. verfasste, ein kanonenartiges Geschütz ab, das Metallpfeile per Pulverkraft verschießt. Die nach dem Illustrator „Milimete-Geschütz“ genannte Waffe gleicht dabei – analog zur Augsburger Tipsiles-Legende – mehr einer knapp einen Meter langen, liegenden Vase als einer Kanone späterer Art. Die Lade- und Zündtechnik wirkte aber bereits wie bei sämtlichen verbesserten Modellen bis ins 18. Jahrhundert. Man leerte das waffenfähige Pulver in eine hinten verschlossene Rinne und setzte ein passendes Geschoss auf die Ladung. Die Zündung erfolgte nämlich auch hier schon durch einen (meist) seitlichen Luntenstock, und nicht wie manche Autoren annahmen durch ein glühendes Loseisen.

 

illustration of an early cannon, year 1326

illustration of an early cannon, year 1326

 

Es ist bekannt, dass Augsburg in jener Zeit an der Seite Kaiser Ludwig des Bayern stand, der sich wiederholt bei Augsburger Juden verschuldete und dafür einmal sogar seine Stadt München als Pfand einsetzte. Belegt ist zudem, dass Augsburg dem, 1324 von Papst Johannes XXII gebannten, keineswegs unumstrittenen Kaiser wiederholt bei militärischen Auseinandersetzungen zur Seite stand und Soldaten zu seinen Heeren beisteuerte. Zeitweilig geschah dies auch im Bündnis mit den Engländern, weshalb der Augsburger Bischof sogar auch am Hofe des englischen Königs empfangen und mit reichlichen Geschenken belohnt wurde. Vielleicht war dieser als Waffenhändler auf Reisen. Eine wie auch immer geartete Augsburger Beteiligung an den Auseinandersetzung im Krieg von Metz ist folglich durchaus denkbar.

Plausibel erscheint nun auch die exotisch wirkende Herkunft und das Erscheinungsbild des Tipsiles im Kontext des Geschehenes der Augsburger Überlieferung. In einer Zeit in welcher es insbesondere  auch in Süddeutschland wegen Ritualmord- und Hostienschändungsanklagen schlimmste Verfolgungen ganzer jüdischer Gemeinden gab, ist es kaum denkbar, dass eine Tradition einen noch dazu fremdländischen Juden ersinnt, um die Erfindung eines bald weltbekannten Pulvers für die Geschichte der Stadt zu reklamieren.

Anders als bei „den Chinesen“, Berthodus Niger aber auch Roger Bacon steht die Erfindung des Schießpulvers hier im unmittelbaren Zusammenhang mit dem praktischen Einsatz als Waffe, deren Erwähnungen sich „nach Metz“ in ganz Europa häufen. Schon 1327 ordnen die Räte der Stadt Florenz die Herstellung von Kanonen und Metallkugeln (pilas seu pallectas ferreas et canones de metallo) an. Um 1330 kommen als vasi e scioppi bezeichnete Geschütze bei der Belagerung italienischer Städte zum Einsatz. 1339 verwendeten Franzosen bei Perigord und Cambrai gegen Edward III von ihnen als pot-de-fer bezeichnete Kanonen – weshalb es verständlich ist, dass er sich diese von Walter Milimete beschreiben ließ. In Italien sind in dieser Zeit bereits Vorläufer von Handfeuerwaffen illustriert.

Das Schwarzpulver war nun der erste Explosivstoff, der als Treibladung für Schusswaffen verwendet wurde. Es wurde erst relativ spät im ausgehenden 18. Jahrhundert durch effektivere Mischungen verdrängt. Nur im Schießsport, bei Feuerwerken oder bei historischen Festen wird Schwarzpulver heute noch benützt.

Wer war jener Tipsiles, der auch in der Jewish Encyclopedia kurz Erwähnung findet und der nach einer weiteren Augsburger Überlieferung nicht nur das Schießpulver, oder genauer gesagt die Kanone erfand, sondern auch der erste Papiermacher der Stadt und zudem offenbar auch Apotheker war?

Der eigentümliche Name hat einen gräzisierenden Klang freilich ohne griechisch zu sein, vielmehr handelt es sich dabei um eine Korruption von Tiplisi, der sich ursprünglich auf die heutige georgische Hauptstadt Tiflis (neu- georgisch: Tblisi) im Kaukasus bezieht.  

Im 9. Jahrhundert hatte Musa al Safrani (aus der persischen Ortschaft Safran stammend), dessen Name hebräisch Amran Ha-Parsi (der Perser) lautete in Bagdad eine karaitische Sekte begründet. Die Karaiten, die in ihrer Blütezeit im 11./ 12. Jahrhundert etwa ein Drittel der Juden ausmachten (der Historiker Salo Wittmayer Baron (1895-1989) schätzt sogar runde 40 %), hielten den Talmud, all seine Überlieferungen und Bestimmungen für völlig unverbindliche Meinungen und waren deshalb mit der Mehrheit der Juden, die sich an den rabbinischen Lehren orientierte in teilweise heftige Kontroversen verstrickt.  Karaiten oder Karäer wurden wegen ihrer Ablehnung des Talmuds auch nicht von Christen bedrängt, da ihre bloße Bibeltreue nach christlicher Auffassung nicht den Lehren des Evangeliums im Wege standen. Diese „Toleranz“ gegenüber Karaiten hielt bis ins 20. Jahrhundert an, weshalb die wenigen Hundert von ihnen auch von den Nationalsozialisten nicht verfolgt wurden. Andererseits waren auch die Karaiten untereinander zerstritten und splitterten sich in mehrere rivalisierende Gruppen auf. Da ihnen das schriftlich fixierte Gerüst des Talmuds fehlte, bildeten sich zahlreiche Karaiten-Schulen mit abweichenden Interpretationen des biblischen Textes. Musa Al-Safrani etwa vertrat eine Reihe von Ansichten, die zwar Anklang bei seinen Schülern hatten, das Establishment der Karaiten in Bagdad aber gegen ihn aufbrachten. Als sie ihn öffentlich verfluchten und schließlich beseitigen wollten, floh er und landete nach einiger Wanderschaft im Kaukasus. Dort hatte er unter chasarischen Konvertiten weit mehr Erfolg und ließ sich dauerhaft in Tiflis nieder. Sein dort erworbener Beiname Abu Imran ha-Tiplisi ging schließlich auf seine Anhänger über, die „die Tifliser“ genannt wurden und nun wiederum in Ägypten ebenso vertreten waren wie im byzantinischen Reich oder im israelischen Haifa. Sie brachten eine Reihe von beachtlichen Gelehrten hervor, die neben religiösen auch medizinische, astronomische und dazu grammatikalische Werke verfassten.

Aus der karaitischen Schule der Tiplisim, deren Merkmal das Tragen grüner Kopfbedeckungen war, nun stammte auch der 1279 in Haifa geborene, aber in Ägypten aufgewachsene Daud Jusuf Al-Tiplisi (hebräisch: David ben Josef), der zeitweilig am Hof des Sultans Nasir Muhamad (1285 – 1340) diente, aber um das Jahr 1309 herum das Land verließ, nachdem der junge Herrscher zeitweilig gestürzt wurde. Er ging nun zurück in seine Geburtsstadt Haifa und von dort wiederum nach Konstantinopel wo er einer der Lehrer des in Kairo geborenen Aharon ben Elia (1300 – 1369) wurde, einem der bedeutendsten Gelehrten des karaitischen Judentums. In Konstantinopel verfasste David ha-Tiplisi eine Reihe von Schriften, wovon jene mit dem Namen „Chochma nistara“ (verborgene Weisheit) in Auszügen erhalten geblieben ist. Aus den Responsen seines Schülers Bachja ben Salomon (1294 – 1355) nun wissen wir, dass David – aus einem uns unbekannten Grund – Konstantinopel verlassen hatte und in das Gebiet von „ostera uswabin“ übersiedelte, was sich unschwer als Österreich und Schwaben deuten lässt. Als zeitliche Angabe ergibt sich aus dem weiteren Zusammenhang, dass dies sieben Jahre vor der Eroberung der ca. 90 km südlich von Konstantinopel gelegenen Stadt Bursa geschah, demnach also wohl im Jahre 1319.

 

David ben Josef Ha-Tiplisi (1279 - 1359)

David ben Josef Ha-Tiplisi (1279 - 1359)

(painting by Chana Tausendfels, 2005)

Zwar findet sich für das Jahr 1324 in den Augsburger Annalen ein David verzeichnet, jedoch können wir nicht sagen, ob sich dieser Eintrag auf David ben Josef bezieht. Auch der in der Tipsiles-Legende erwähnte Name seines Dieners Ismael findet sich in den Augsburger Steuerbüchern, freilich mit enormen zeitlichen Abstand im Jahre 1383, jedoch in der Schreibweise Yshmahel. Relevant für die Geschichte des Tipsiles in Augsburg nun aber auch die Notiz, dass er weit abseits der städtischen Judenviertel des Königshofs und des Rathauses wohnte, nämlich in der später so genannten Maximilianstraße. Schon die klare räumliche Trennung von der Judengemeinde legt nahe, dass er allgemein einen Sonderstatus innehatte. Der Umstand, dass David ben Josef ein Karaite war, also das talmudische Judentum ablehnte, könnte diese Absonderung von der restlichen Gemeinde erklären. Ungeklärt ist nun jedoch der eigentliche Grund wie die Dauer seines Aufenthaltes, wovon auch sein Schüler nichts zu berichten weiß. Aus einer anderen Quelle findet sich spät eine Spur, die besagt, dass der nun wieder Daud Jusuf Al-Tiplisi genannte Gelehrte am 20. Tamus des Jahres 5119 ( = 1259) in Akko starb.  Augsburg hatte er, wenn nicht bereits zuvor, wohl während des Massakers im November 1348 verlassen. Damit blieb ihm auch erspart, dass nach der Ausweisung der Augsburger Juden über deren Friedhof das städtische Waffenarsenal errichtet wurde.

Neben der Zuschreibung der Namensgebung für das Pulvergäßchen erinnert an Tipsiles in Augsburg womöglich noch eine kleine Figur, die sich in der Kirche St. Anna befindet. Sie stellt den Kopf eines rothaarigen Mannes dar, der einen grün oder grünbläulichen Turban trägt. Die Figur als solche ist für eine christliche Kirche in Schwaben sicherlich eher atypisch. Sie wurde erst am Ende des 19. Jahrhunderts bei Restaurierungsarbeiten in der auf das 14. Jahrhundert zurückgehenden Hirn‘schen Kapelle im Fußboden gefunden und ohne besonderen Bezug für ein Schmuckstück gehalten. Als solches hängt es in der Kirche nun an einer Seitenwand.

 

Das überlieferte Todesdatum des David ben Josef jährt sich am kommenden Schabbat zum 650. Mal, weshalb der jhva an dieser Stelle an den mutmaßlichen Erfinder des waffenfähigen Schießpulvers, bzw. der modernen Schusswaffen erinnern will.


Die Geschichte der Juden in Augsburg

November 2, 2006

Jewish Seal of Augsburg year 1298

Jewish Seal of Augsburg year 1298

In wohl keinem anderen Land der Welt – mit Ausnahme Israels – finden sich so viele ”Reste” alter jüdischer Geschichte wie in Deutschland. Grabsteine, Synagogen, Tauchbäder, Plätze, Straßen, Häuser, Denk- und Mahnmale, Friedhöfe, Inschriften, „Stolpersteine“, Museen, usw.  zeugen von einem weit über tausendjährigen, wechselvollen, oft dramatischen Leben „in deutschen Landen“. Wenngleich die frühesten erhaltenen Dokumente die Existenz einer jüdischen Gemeinde schon in der alten Römerstadt Köln bereits für das Jahr 321 gesichert voraussetzen, umspannt die historisch greifbare Epoche jüdischen Lebens in Deutschland im wesentlichen den Zeitraum von den ersten Kreuzzügen bis zu Güterzügen der Nazis. Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn die Quellenlage der allgemeinen Geschichtsschreibung im ersten Jahrtausend in Deutschland ist zwar reicher an der Vielzahl von Legenden und Zuschreibungen, aber keineswegs besser dokumentiert.

Wenngleich sehr viele Monumente den Stürmen der Jahrhunderte getrotzt haben, wurde doch auch sehr vieles, sicher das meiste, zerstört, sehr oft mutwillig und gar nicht selten unnachgiebig und viele Spuren und Erinnerungen, die vorsätzlich getilgt werden wollten, sind deshalb auch im gewissen Rahmen „unterirdisch“, weil mit bloßen Auge nicht zu sehen – aber, in Dokumenten und Überlieferungen erfassbar, trotzdem spürbar und präsent. Das verhält sich mit jüdischer Geschichte nicht anders als mit sonstiger.

Obwohl archäologische Befunde Juden bereits im antiken, dem nach Hadrian benannten Augsburg nahelegen und es Hinweise für eine dauerhafte jüdische Besiedlung seit dem frühen zehnten Jahrhundert gibt, gilt trotzdem erst das frühe 13. Jahrhundert als Ausgangspunkt akademischer Überlegungen. Diese um 1210 „erste“ nachweisbare jüdische Gemeinde in der wir einen Maharam vorfinden findet mit den Ausschreitungen vom November 1348 ihr jähes Ende, nur um aus den wenigen Überlebenden rund sieben Jahre später den Grundstock für eine „zweite“ Gemeinde zu bilden, die nach dem Abzug der Juden 1440 für 363 Jahre die letzte Gemeinde der Stadt war. So jedenfalls lautet die gängige Ansicht, die jedoch stapelweise an Belegen über die Anwesenheit von Juden in fast allen Jahren und Jahrzehnten außer Acht lässt, lassen muss.

Die jüdischen Gemeinden in Augsburg zeichneten sich durch einige Besonderheiten aus, die im zeitlichen Kontext auf einen durchaus bemerkenswerten Status in der Reichsstadt schließen lassen. Anders als vielerorts üblich, gab es in Augsburg etwa kein abgeschlossenes Ghetto, sondern verschiedene Viertel, besser gesagt Straßen, die teilweise auch von Christen bewohnt waren, während zugleich einzelne Juden auch außerhalb im ganzen Stadtgebiet wohnten. Darüber hinaus waren christliche Bedienstete – in vielen anderen Städten undenkbar – in jüdischen Haushalten durchaus keine Ausnahme. Das ging soweit, dass städtische Urkunden ausdrücklich betonten, dass jene Bediensteten anders als andere Christen, das jüdische Bad benutzen durften. Für andere Christen stand dies unter Strafe und wurde mit einem ansehnlichen Bußgeld belegt. Der sog. Rindtfleisch-Verfolgung im Jahre 1298, bei der legendär in ganz Süddeutschland 146 jüdische Gemeinden zerstört worden sein sollen, konnte die Augsburger Gemeinde entgehen, da der Anführer rechtzeitig aufgehängt wurde. Die Augsburger Juden, errichteten zum Dank an „ihren“ Kaiser in seiner Reichstadt Augsburg die nordwestliche Stadtmauer auf eigene Kosten, besiegelt von der Stadt und mit dem  „chotam kahal ogspurk”, dem Siegel der jüdischen Gemeinde.

Im mittelalterlichen Augsburg gab es zwei, drei verschiedene Judensiedlungen, die teilweise auch parallel bestanden. Die ältere, obere Siedlung mit dem Zentrum Judengasse (heute Karlstraße) grenzte direkt an den Königshof südlich der Domstadt und lag inmitten eines Gewerbegebietes mit Schmieden, Gerbern und Händlern (woran noch heutige Straßennamen erinnern (Schmiedberg, Obstmarkt, der damals freilich Forchenmarkt hieß, Kesselmarkt, Hafnerberg, Weißfärbergasse). Hier standen die Synagoge, das Gemeindehaus und das Tanzhaus der Judengemeinde. Auch nach 1355 siedelten die Juden dort wieder.

Das zweite, untere Judenviertel bestand unterhalb des Rathauses in einem maßgeblich von Kleingewerbetreibenden geprägten Viertel am östlichen Hang der städtischen Hochterasse zwischen Rathaus und Judenberg. Ein drittes, vermutlich vormaliges Viertel soll in der schon im 14. Jahrhundert abgerissenen Vorstadt Wagenhals beim Vogeltor im Südosten der Altstadt. Bestanden haben. Wie über die Vorstadt selbst sind dazu jedoch nur spärliche Hinweise über erhalten geblieben, weshalb es eher zweifelhaft ist. Sehr wahrscheinlich erklärt sich damit aber die Zuschreibung des nahe gelegenen Rabenbads als „Rabbinerbad“.

Gleichwohl in der Zeit zwischen Mittelalter und Neuzeit immer wieder einzelne, herausragende Juden in der Stadt lebten und in der Umgebung lebende Händler, usw. immer in der Stadt präsent blieben, verlagerte sich vieles in örtliche Randgemeinden, der Fagasch, Steppach, Kriegshaber und das heilige Pfersee. Letzteres wurde unter dem Einfluss der Ulmo gar Sitz des schwäbischen Judentums, beheimatete anstelle Augsburgs eine größere Anzahl berühmter chassidischer Gelehrter und Autoren (wie etwa R. Isak Etthausen oder R. Jehuda Löw Oppenheim) und Handelsfamilien und erlangte ob seiner als Pferseer Handschrift bezeichneten (fast) vollständigen Talmudausgabe aus dem Jahre 1340 Weltruhm. Die Verbindungen der Rabbiner und Gelehrten aus Pfersee und Kriegshaber waren sehr vielschichtig und so wundert es nicht, dass sie ihre Töchter und Söhne mit prominenten Rabbinern und deren Kindern in ganz Europa verheirateten. Ein berühmtes Beispiel dafür wäre etwa Rabbi Elieser, der als Sohn Rabbi Schimon Ulmo aus Ginzburg immerhin die Tochter des weltberühmten Krakauer Gelehrten Mosche Isserles, dem Verfasser der mapah zum schulchan aruch Josef Karos ehelichte. Beide wanderten bereits in dieser frühen Zeit nach Eretz Israel aus und zeigten sich – keineswegs als einzige als frühe chowewej zion, als Zionsliebhaber, wie man die religiös motivierten Vorzionisten nennt. Aus Israel hingegen kamen zahlreiche Gelehrte nach Pfersee, um die berühmte Talmudhandschrift zu studieren, unter ihnen 1754 auch Chida, der weit gereiste schaliach Rabbi Chaim Joseph David ben Isaac Zerachia Azulai (1724 – 1807).

In der Stadt an Lech und Wertach selbst hingegen dauerte es doch recht lange, bis eine dritte Gemeinde zustande kam, obwohl nach 1450 immer wieder einzelne Juden in der Stadt lebten, mal für Wochen, mal für Monate, dann waren es Dutzende, sogar Hunderte von Juden konnten jahrelang in Augsburg leben und unweit des Rathauses eine inoffizielle Betstube betreiben. Erst im Jahr 1803 jedoch, kurz bevor Augsburg im Zuge der Napoleonischen Kriege an Bayern gelangte, damit aufhörte eine „Freie Reichsstadt“ zu sein und ihre Festungseigenschaft verlor, wirkte letzteres sich auch in einem bestimmten Sinne für die Juden der Umgebung aus, die nun wieder eine Gemeinde in der Stadt bilden konnten, die formell aber erst um 1860 begründet wurde. Kurz drauf gründete sich die Synagogen-Gemeinde. Diese bestand sodann bis in die Nazi-Zeit. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts war die jüdische Gemeinde wieder fester Bestandteil der Augsburger Bevölkerung. Als Lehrer, Ärzte und Rechtsanwälte leisteten die Juden auch ihren Beitrag zum sozialen, politischen und geistigen Leben der Stadt. Ihr erstes Gemeindezentrum hatten sie in einem Wohnhaus am Obstmarkt, gegenüber der mittelalterlichen Judensiedlung, ehe es gegen Mitte des 19. Jahrhunderts verlegt wurde in die Wintergasse, wo ein umgebautes Wohnhaus die Synagoge bildete, bis schließlich die Gemeindemitglieder zu zahlreich wurden und nach langer Planung und Bauzeit 1917 die auch heute wieder benutzte Synagoge in der Halderstraße eingeweiht werden konnte. Nach der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten zwangen Diskriminierung und wirtschaftlicher Druck immer mehr Gemeindemitglieder zu Emigration oder Flucht. Mehr als 1000 Juden aus Augsburg und Umgebung wurden aber von den Nazis und ihren Helfern ermordet. Doch schon rasch nach 1945 gründete sich mehrheitlich aus Zuwanderern aus Osteuropa eine neue, soz. die „vierte“ jüdische Gemeinde der Stadt. Sie musste zwei Gruppen vereinen, Überlebende der Augsburger oder anderen schwäbischen Gemeinden auf der einen, „hängengebliebene“ meist osteuropäische „Displaced Persons“, die in aus Polen oder Ungarn, etc. in schwäbische KZ-Lager zur Zwangsarbeit verschleppt wurden oder Flüchtlinge, die sich von den kommunistischen Befreiern im Osten nichts versprechen durften. Nach vielen Rivalitäten, deren Hauptprotagonisten in den letzten Jahren verstarben, dämmerte Einheitsgemeinde dahin. Sie bekam ein vielbeachtetes Museum auf die Füße gestellt, da man dachte, dass die restaurierte Synagoge sonst keine wohl keine Überlebenschance haben würde. Doch seit den neunziger Jahren wurde die Gemeinde durch sog. Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion erheblich so zahlreich verstärkt, dass sie bald ein faktisch russische Gemeinde wurde. Eher nebenbei gelang es nach langen Jahrzehnten auch wieder eigene Berufs-Rabbiner anzustellen, die jedoch in erster Linie nach außen wirkten und scheinbare „Normalität“ verkörperten, während sie in der Gemeinde eher Zankäpfel ernteten.

Die wechselvolle, aber spannende Geschichte der Juden in Augsburg und Umgebung ist ein kleiner aber nicht der kleinste Teil der Geschichte des jüdischen Volkes. Unsere Arbeit ist ihrem Gedächtnis und den Nachkommenden zum Vermächtnis gewidmet. Die kommenden Jahre werden Aufschluss darüber geben, in welche Richtung die jüdische Gemeinschaft in Augsburg sich entwickelt. Zwar ist die gegenwärtige Gemeinde mit etwa 1800 „Mitgliedern“ die zahlenmäßig größte, die es jemals in Augsburg gab (die Vorkriegsgemeinde hatte 1000-1200 Mitglieder, die größte mittelalterliche nicht mehr als 800), doch ist es zugleich auch die am wenigsten jüdische. Die Masse der aus Russland, der Ukraine, Belarus, etc. stammenden Zuwanderer hat von jüdischen Brauchtum nur eine Ahnung und kennen es lediglich aus der Perspektive eines eher eigenartigen säkularen, orthodoxen Christentums, das typisch war für die Sowjetunion. Man stellte sich im Winter einen Weihnachtsbaum in die Wohnung, weil es jeder so machte und einfach üblich, eben „sowjetisch“ war. Grundlagen wie den Talmud kennt man allenfalls als Begriffe antisemitischer Propaganda.  Dann schon lieber spekulative Pseudo-Mystik. Die kann man leicht auf Russisch lesen. Ein Reform-Rabbiner hat in einer solchen Gemeinde sicher weniger Konfliktpotentiale als der vorherige „orthodoxe“, der zumindest zeitweilig an das etablierte Brauchtum des Judentums erinnerte. Aber schon als Mohel war er de facto arbeitslos. Nicht anders ergeht es dem „Reformer“, der nichts Altes, als Ballast empfundenes über Bord werfen könnte, da das Schiff längst auf dem Trockenem sitzt und Teil der sog. Museumslandschaft geworden ist. Vieles spricht dafür, dass es sich nur um eine Art „Zwischenhoch“ handelt.  Es ist nicht schwer zu prognostizieren, dass die sehr stark überalterte Mehrheit der „Russen“ sich in den beiden Jahrzehnte sich deutlich verringern wird. Da viele der Zuwanderer in Mischehen leben oder aus solchen stammen, während wenige interessierte und engagierte jüdische Jugendliche wie zuvor schon abwandern werden, ist es nur eine Frage der Zeit, wann der Level vor der „Welle“ der Einwanderung wieder erreicht ist. Ebenso absehbar ist, dass es zu keiner “Renaissance” des Judentums kommen wird, da sich die Mehrheit der wenigen Interessierten jüdische Feste so feiert wie Karneval. Man spielt für ein paar Stunden den Piraten oder Indianer und isst, was dazu passt. Sonst hat das weiter keine Bedeutung. Folklore eben und wie es früher “war” kann man im Museum nachlesen oder in Vitrinen bestaunen. Und nein, das ist kein Pessimismus. 🙂

Unabhängig von diesen, für uns nicht beeinflussbaren Faktoren, wollen wir hier auf den Spuren der Stadtgeschichte – zu der Dank der Eingemeindungen auch inzwischen die Gemeinden der einst selbstständigen Vororte gehören – Anreize bieten, die Geschichte des Judentums in seiner reichen lokalen Entwicklung nachzuzeichnen – wissend, dass das Ganze immer mehr ergibt als die Summe seiner Teile – um einen kleinen Eindruck darüber zu vermitteln, wer diese Juden in Augsburgs Geschichte waren, wie sie gelebt haben und wie trotz aller Verfolgungen doch immer wieder den Mut schöpften, sich in der Stadt niederzulassen und zu ihrem Wohlstand und Fortschritt ihren Beitrag zu leisten.

 


[1]Hirsch – Lopez – Reiseführer durch das jüdische Deutschland, Kovar, München 1995, S.10

[2] Dies geht aus der (in einer Abschrift aus dem 10. Jahrhundert im Vatikan erhaltenen) Urkunde vom 11. Dezember 321 n. a. Z. hervor, in welcher der römische Kaiser Konstantin seine Statthalter in Köln auffordert, die Juden an den öffentlichen Arbeiten des Gemeinwesens zu beteiligen. Im Jahr 2001 war die Urkunde Auftakt der Ausstellung „Entdeckungsreise durch zwei Jahrtausende deutsch-jüdischer Geschichte“ im Jüdischen Museum in Berlin. Der lateinische Text aus dem sog. „Codex Theodosianus“ lautet: „Idem a. decurionibus agrippiniensibus. cunctis ordinibus generali lege concedimus iudaeos vocari ad curiam. verum ut aliquid ipsis ad solacium pristinae observationis relinquatur, binos vel ternos privilegio perpeti patimur nullis nominationibus occupari. dat. iii id. dec. crispo ii et constantino ii cc. conss.” (C. Th. 16.8.3)

[3] Der Übergang von lateinischer zu deutscher Beurkundung vollzog sich langwierig und schwankend zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert und diente vormals meist nur kirchlichen Zwecken.

[4]Zumindest lässt sich das für die Zeit ab dem 13. Jahrhundert sagen, die Geschichte davor liegt fast völlig im Dunklen. Andeutungen lassen jedoch den Schluss zu, dass es früher zu Ausschreitungen gegen Juden gekommen war.