Rabbiner von Augsburg: Heinrich Gross (1835-1910)


Der als Henoch ben Elijahu geborene, international eher als Henri Gross (ungarisch: Grosz) bekannt gewordene Heinrich Gross war der zweite neuzeitliche in Augsburg angestellte Rabbiner und trat 1875 die Nachfolge Jakob Heinrich Hirschfeld aus Pecs (Kulturhauptstadt 2010) an, der 1871 die sog. Augsburger Reformsynode unterstützte und daraufhin von der Gemeindeleitung unter Salomon Rosenbusch (der 1867 die Nachfolge des offiziellen Gemeindegründers Carl von Obermayer antrat) entlassen und gemeinsam mit anderen Teilnehmern der illustereren Konferenz seitens des traditionellen Judentums öffentlich gebannt wurde. Die umstrittene Synode fand zwar in Augsburg statt, wurde aber von der noch mehrheitlich konservativ eingestellten Gemeinde weitgehend ignoriert wenn nicht gar abgelehnt. Wie auch immer entwickelte sich die Kultusgemeinde in den Folgejahren dann doch einigermaßen zügig in die Reformrichtung, weshalb es offenbar schwierig war, einen neuen Rabbiner zu finden, der nach Augsburg kommen wollte, um die Gräben zwischen den Fraktionen zu überbrücken.

Heinrich Gross wurde am 6. November 1835 im heute slowakischen, damals ungarischen Senica (Scenicz) geboren. Er war ein Schüler von Jehuda Aszod (1794-1866), der noch über profundes talmudisches Wissen verfügte und unter anderem mit Rabbi Moses Sofer geistreiche und reizvolle halachische Korrespondenzen führte. 1864 gehörte Sofer er zu einer Delegation klassischer Rabbiner die beim österreichischen Kaiser Franz Joseph in Wien vorsprach und erfolgreich darum bat, die Pläne für eine von der Regierung ausgehendes Institut zur staatlichen Ausbildung der Rabbiner fallen zulassen. Ein solches, fürchteten die vorsprechenden Gelehrten könnte von reformerischen Strömungen dominiert werden und den geistigen Tod des Judentums bewirken. Der Kaiser entsprach der Bitte und hatte eine eigene: er bat um einen Segen durch die Rabbiner. Diesen erteilte ihn Moses Sofer und wünschte ihm ein langes Leben und eine lange Regentschaft. Wünsche die in Erfüllung gegangen waren, als der Monarch 1916 im Alter von 86 Jahren und nach 68 Jahren Regentschaft verstarb.

Zumindest an weltlicher Gelehrsamkeit stand Gross seinem ersten Lehrer nicht nach. Er studierte er der Jewish Encyclopedia gemäß zunächst in Breslau, das damals als Hochburg des neuorthodoxen Judentums galt und dann in Halle, wo er 1866 über Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) promovierte. Hernach war er zwei Jahre als Privatlehrer am Pariser Wohnsitz des weltweit berühmten ukrainisch-russischen Baron Horace Günzburg (1833-1909) angestellt, der zu den wesentlichen Initiatoren und Führern der insgesamt doch eher glücklosen jüdischen Emanzipationsbewegung in Russland gehörte, in einer Zeit als dort nach und nach die ominösen „Protokolle der Weisen von Zion“ erdichtet und in Umlauf gebracht wurden. Der Nachkomme aus der schwäbischen Ulmo-Günzburg-Linie war seit 1880 auch Vorsitzender der späteren Jüdischen Landwirtschaftsgesellschaft , die einen nicht geringen Einfluss auf die bald formulierten Pläne von Theodor Herzl nehmen sollte. In St. Petersburg, seinem eigentlichen Wohnort freilich baute er eine große eindrucksvolle Synagoge deren Vorstand er zeitlebens blieb. Aus gelehrter jüdischer Tradition stammend war er jedoch auch dem Allgemeinwohl verpflichtet und finanzierte eine Armenküche für hungernde Kinder in Petersburg. In Paris nun kam Heinrich an der Bibliothèque Nationale auf sein Thema, das ihn publizistisch am meisten beschäftigen sollte: die Geschichte der mittelalterlichen Juden in Nordfrankreich, die in großem Umfang unter dem Namen Gallia Judaica erschien und wegen seiner guten systematischen Gliederung lange als Standartwerk zur Geschichte der Juden in Frankreich galt. Von besonderem Interesse auch für die Geschichte seines späteren Arbeitsplatzes in Augsburg ist dabei insbesondere auch das Eingangskapitel „L’identification de tour les noms géographiques français mentionnés dans la littérature rabbinique du moyen âge“ seines von Moses Bloch herausgebenen „Dictionaire geographique de la France d’après les sources rabbiniques“, dem wertvolle Hinweise zu entnehmen sind. Gross publizierte dazu auch zahlreiche Artikel und Einzeldarstellungen, von denen viele in der vom Dresdner Rabbiner Zacharias Frankel 1851 ins Leben gerufenen und später von Heinrich Graetz geführten  „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“ publiziert wurden.

Mit seiner Amtszeit von 1875 bis zu seinem Tode am 31. Januar 1910 ist Heinrich Gross einer der ausdauerndsten in Augsburg und in der Tiefe talmudischen und geschichtlichen Wissens ein bis dato letztes Aufflackern früherer Gelehrsamkeit in der Stadt an Lech und Wertach. Verheiratet war seit 1873 Heinrich mit Anna, die immerhin um 17 Jahre jünger war als er. Ihr einziger Sohn Arthur wurde am 2. November 1874 geboren, verstarb aber bereits im Alter von 20 Jahren am 8. Sivan 5664, d.h. am 12. Juni 1895, unverheiratet und kinderlos, dem Vernehmen nach durch einen Unfall. Heinrich Gross verfasste auch ein “Lehrbuch der Israelitischen Religion für die Oberen Klassen der Mittelschulen” (1907 im Verlag J. Kauffmann, Frankfurt am Main erschienen). In seiner Amtszeit wandelte sich die traditionelle jüdische Gemeinde in Augsburg in eine rein reformistische , was insgesamt der Zeitströmung in Deutschland entsprach. Seine Amtszeit umfasst wesentlich die Präsenz der jüdischen Gemeinde in der Wintergasse, der westlichen Seitenstraße zu Augsburgs „Prachtstraße“ der Maximilianstraße, in welchen Fugger, Schaezler, in dieser Zeit aber u.a. auch längst Obermayers oder etwa Salomon Rosenbusch residierten. Gross stand einer modernen städtischen Gemeinde vor in einer Zeit die neben sozialen Verwerfungen auch mittels zahlreicher technischen Einrichtungen das Alltagsleben und die Wahrnehmung der Menschen nachhaltig prägte, sei es Photographie. Telefon, elektrisches Licht, Kino, Autos, Motorräder, Grammophone, usw.

Heinrich Gross starb am 31. Januar 1910 im Alter von 74 Jahren. Seine Frau Anna folgte ihm im selben Jahr am 25. Oktober. Sie wurde nur 58 Jahre alt. Anna und Heinrich Gross sind gemeinsam am jüdischen Friedhof im Augsburger Stadtteil Hochfeld begraben. Die hebräische Grabinschrift würdigt Heinrich Gross als berühmten Rabbiner und Vorsitzenden des Rabbinatsgerichts.

פ”נ

הרב מפורסם החריף ובקי

מהור”ר חנך בן אליהו גראסס

אב”ד דק”ק אוגסבורג והמדינה

י”נ ביום כ”א שבט תר”ע  ק’

 

Dr. Heinrich Gross, Distrikrabbiner in Augsburg

geb. 6. November 1835, gest. 31. Januar 1910

Frau Anna Gross,

geb. 9. Dezember 1852, gest. 25. Oktober 1910

  In diesem Jahr gedenken wir ihnen jeweils zum 100. Todestag.

We commemorate the centenary of the death of Rabbi Heinrich Gross (1835-1910) aka Henri Gross or Grosz, who was Rabbi of Augsburg and distrct rabbi from 1875 until his death January 31 in 1910. Rabbi Gross was somewhat famous since he was the author of the “Gallia Judaica”, the then most comprehensive work on the history of medieval Jews in France he has written in Paris when he was employed by the famous and influential Russian-Jewish Baron Horace Guenzburg. In Augsburg the position of the rabbi was vacant since in 1871 the Jewish community fired Rabbi Hirschfeld becaus he embraced Reform-Judaism which held a nationwide conference in Augsburg back then. Henri Gross and his wife Anna as well as their son Arthur are buried at the Jewish Cemetery of Hochfeld in Augsburg (Haunstetter Str. Alter Postweg).

4 Responses to Rabbiner von Augsburg: Heinrich Gross (1835-1910)

  1. Habel Janos says:

    Herzliche Grüße aus der 55. Kulturhauptstadt Europas 2010, aus Pécs, Fünfkirchen, Pecuh, Pet Cverke, (usw.).
    (Deutsche List: aus Essen2010 wurde geschickt Ruhr2010 gemacht, und das besteht alleine aus 53 Städten)
    Ich suchte eben Informationen über den Rabbiner Hirschfeld, den 1. Rabbiner der Fünfkirchner Synagoge, so stoß ich auf Ihre Website. Wie ich bei Ihnen lese, ist auch sein Nachfolger aus dem Königreich ungarn nach Augsburg gegangen. Ex Oriente Lux…
    Im Kulturhauptstadtjahr waren mehrere Veranstaltungen bei uns bezüglich der jüdischen Kultur, natürlich war auch die hisige Kultusgemeinde eingebunden. (Konzerte, Ausstellungen, Tagungen, Kulinarisches). Falls jemand aus Abenteuerlust eine Reise zu uns nach Südungarn wagt, zeige ich ihr/ihm gerne auch das “jüdische Pécs”: Synagoge, Friedhof, Denkmäler, erzähle ich über die wichtigen Familien und Personen, u.ä.

  2. ssssnake says:

    Dann war ich beim Biervortrag wohl nur körperlich anwesend, nicht geistig 😉

    Sagt mir alles nichts…
    Kultur kann man anscheinend nicht trinken *g*

  3. yehuda says:

    Schwer zu sagen, im Biervortrag hatte ich die Stadt (alter deutscher Name: Fünfkirchen) schon mal etwas erwähnt wegen des Hirschfeld – Biers von dort, das von Verwandten des Rabbiners seit 1848 gebraut wurde:

    http://en.wikipedia.org/wiki/P%C3%A9cs_Brewery

    Zur Stadt siehe allgemeines Info bei wikipedia:

    http://de.wikipedia.org/wiki/P%C3%A9cs

    Und zum Kulturhaupstadt-Dingens, das teilt sich dieses mal auf gleich drei Städte auf: Istanbul, Essen und eben Pécs (kroatisch: Pečuh).

    ‘פץ

  4. ssssnake says:

    Pecs?
    Hab ich was verpasst?

    Vermutlich… 😉

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