Warum legt man kleine Steine auf jüdische Grabsteine?


März 2017: Ausführlicher beschrieben im Buch:

Yehuda Shenef

Humor, Wucher, Weltverschwörung: Die geläufigsten Vorurteile gegenüber Juden und was es mit diesen auf sich hat 

ISBN: 978-374-3181-205

Taschenbuch: 260 Seiten

13 Euro

 

Oft werden wir nach der Bedeutung und Herkunft der überall anzutreffenden Sitte gefragt, auf jüdischen Grabsteinen und Denkmälern Steinchen, meist Kieselsteine abzulegen. Allgemein wird dies auch von sog. Fachleuten mit einer für  „Nomaden“- oder „Wüstenvölker“ angeblich typische Bestattungspraxis erklärt.  Demnach legte man auf die Grabstätte Steinhaufen, um den Leichnam vor wilden aasfressenden Tieren zu schützen. Der Vorstellung nach hatten Angehörige bei jedem Besuch ab und an weitere Steine dazugelegt, um diesen Schutz zu erneuern, woraus sich sodann der entsprechende Brauch entwickelt habe. Sollte es ein solches Brauchtum tatsächlich jemals gegeben haben, so hatten die (… wann eigentlich?) „nomadisierenden“ Juden ihn wohl bereits vergessen, als sie in Israel sesshaft wurden, zumindest kennen weder Bibel noch der Talmud eine entsprechende Praxis.  Sie wäre auch gänzlich unnötig, wenn man den Leichnam tief genug begräbt …

Tatsächlich geht die Praxis aber wohl doch auf die im antiken Israel übliche Bestattung zurück, die jedoch in vielen Einzelteilen von der heutigen abweicht. In aller Regel wurden Tote selten auf Äckern oder eigenen Grabfeldern bestattet, sondern in Grabhöhlen, die meist einzelnen (Groß-)Familien gehörten und oft -etwa wie im antiken Ägypten- eigens für den Zweck der Bestattung künstlich geschaffen wurden und nicht selten über einen Zugang mehr oder minder tief unter die Erde, bzw. in den Felsen reichten.

Die Bestattung vollzog sich anders als heute in zwei Schritten. Zuerst wurde der Leichnam auf einer Art Steinbett zur raschen Verwesung aufgebahrt, später wurden die Knochenreste eingesammelt und gesäubert, um sie endgültig in einem kleinen, platzsparenden, meist in etwa quadratischen Steinbehälter, lat. Ossarium („Knochenhaus“) zu legen, welches sodann in einer Nische כוך (kùch) in einer Seitenwand der Familiengruft beigesetzt wurde. Sehr häufig wurden diese Behälter beschriftet mit dem Namen des Verstorbenen. Die Grabhöhle oder der Teilbereich einer Grabhöhle, etwa der der einer einzelnen Familie gehörte, wurde mit einem beweglichen, גולל (golèl) genannten Stein verschlossen, der seinem Namen nach meist rundlich war, aber auch in quadratischer Form belegt ist. Zur Festigung oder Sicherung dieses Golel-Steines nun benutzte man kleine Steine, den sogenannten דופק (dofèk), der nach jedem Besuch der Grabhöhle neu gelegt wurde, wörtlich etwa „der (An)Klopfer“ (vom Verb דפק dafak = (klopfen) und im heutigen Sprachgebrauch der (medizinische) Puls. Schon bei der Bestattung heißt es deshalb entsprechend דופק סתימת הגולל – der Dofèk verschließt den Golèl (Ket. 4b, Sanh. 47b, u.a.).

Als Dofèk nun durfte man nichts verwenden, was selbst gelebt hat, also nichts was von einem Tier oder einer Pflanze stammte, weshalb der Einfachheit halber der Brauch entstand, keilförmige oder andere kleine Steinchen als Abschluss zu nehmen. Im sprichwörtlichen Sinne führte dies auch zu Redensarten wie  לא דופק לסוכה … ולא גולל לקבר – (wörtlich: kein dofek für die Sucka [da zu groß] und kein golel fürs Grab [da zu klein]), sinngemäß etwa: weder das eine, noch das andere (nichts Halbes und nichts Ganzes, weder Fisch, noch Fleisch, etc.).

Der Brauch, einen Stein ans Grab zu legen stammt demnach aus der antiken Bestattungskultur der nahöstlichen Grabhöhlen, für deren Existenz uns schon die Tora das Beispiel der Machpela – Höhle bei Hebron gibt, die Abraham für seine Familie erwirbt. Sie ist keineswegs auf das Judentum beschränkt, so wie sich der Brauch kleine Steine auf das Grab zu legen auch in manchen katholischen Gebieten Italiens erhalten hat. Auch das Christentum überliefert z.B. im Evangelium Markus 16 den Golel.

Es ist zunächst die praktische Funktion des Dofèk, der als eine Art Riegel oder Sperre das unbeabsichtigte Wegrollen oder Verrutschen des meist runden Golèl verhindern soll, zugleich ist es aber im Wortsinn auch ein „Anklopfen“ (des Steinchens an den Grabstein) und deshalb auch ohne die frühere praktische Funktion als „Gruß“ an den Toten zu verstehen.

Why are pebbles laid on Jewish grave markers?

The common custom to leave little stones or pebbles on Jewish head stones goes back to the ancient Jewish funeral practice, when the corps was lay to rest in burial caves. The particular section of the burial cave then in the majority of the cases was locked with a round roll able stone (the golèl). In return to avoid the rolling away of the round golel, the stone was fixed with a smaller stone, called the dofèk (to knock) a word in modern Hebrew also means the pulse. To leave the stone today at a visit means to knock on the grave.

 

März 2017: Ausführlicher beschrieben im Buch:

Yehuda Shenef

Humor, Wucher, Weltverschwörung: Die geläufigsten Vorurteile gegenüber Juden und was es mit diesen auf sich hat 

ISBN: 978-374-3181-205

Taschenbuch: 260 Seiten

13 Euro

 

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16 Responses to Warum legt man kleine Steine auf jüdische Grabsteine?

  1. […] allem der Brauch, beim Besuch eines Grabes kleine Steine auf der Grabstätte zu hinterlassen. Der Ursprung dieses Tuns ist mehrdeutig, wird aber oft als eine Art des „Anklopfens“ verstanden im Sinne eines […]

  2. […] gibt es auch andere Erklärungen. Die schönere lautet, dass nichts Lebendes dem Tod dienen dürfe: Also keine Blumen auf ein Grab. […]

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    Warum legt man kleine Steine auf jüdische Grabsteine? | Jüdisch Historischer Verein Augsburg

  4. […] Warum legt man kleine Steine auf jüdische Grabsteine? | Jüdisch Historischer Verein Augsburg […]

  5. […] können wir also heute noch auf unaufdringliche Weise ein kleines Dofèk-Steinchen zurücklassen, wenn wir über ein Profil stolpern? Dofek bedeutet eigentlich […]

  6. […] Das älteste Grab des jüdischen Friedhofs lässt sich auf das Jahr 1272 datieren und wie viele jüdische Orte in Deutschland hat auch der alte Friedhof eine bewegte Geschichte, mehr Informationen hier. 1996 wurde begonnen in die 286 m lange Friedhofsmauer 11.915 kleine Stahlblöcke einzulassen, von denen jeder einzelne für einen der zwischen 1933 und 1945 deportiert und ermordeten Frankfurter Juden steht. Auf den Blöcken sind der Name, der Geburts- und Todestag sowie der Deportationsort plastisch herausgearbeitet. Beendet wurde die Arbeit 2010 durch eine alphabetische Neuordnung der Steine. Auf vielen der Blöcke finden sich auch heute kleine Steine, die als Gruß an die Toten meist von Angehörigen hinterlassen werden. Der genau Ursprung des Brauchs kann hier nachgelesen werden. […]

  7. […] nicht mehr viele. Ich erwähnte schon einen christlich-jüdischen Friedhof, den ich sah. Dort waren Dofèk – die kleinen Steine, die man nach jüdischem Brauch auf das Grab legt – zu […]

  8. Every weekend i used to pay a visit this web page, for the reason that i want enjoyment, since this this web page conations actually fastidious funny information too.

  9. […] Martina kindly sent me a link to an article in German language about the custom to place pebbles on Jewish gravestones, with the following […]

  10. Rottmann says:

    Wann dürfen die Steine wieder entfernt werden? Denn würden bei grossen Familien und häufigen Besuchen immer Steine mitgebracht, müsste es eigentlich viel mehr Steine auf einzelnen Grabstellen geben. D.h es müssen auch immer mal wieder Steine entfernt werden. Mich beschäftigtvdiese Frage seit dem Besuch des jüdischen Friedhofs in Schönhausen. Besten Dank für eine Antwort.

    • yehuda says:

      Bei Blumen auf christlichen Friedhöfen würde man davon ausgehen, dass man wartet, bis sie welken. Bei Steinen auf den Verfall zu warten, wäre hingegen etwas langwierig.

      Da sie heute keine weitere Funktion haben, können sie faktisch sofort entfernt werden, falls sie stören. Es gibt auch Diskussionen darüber, ob es pietätsvoll ist, wenn auf einigen wenigen Gräbern etwas sehr viele Steine von häufigen Besuchen und Ehren zeugen, während andere leer und verwaist wirken, ob dies der halachisch eigentlich gewollten Gleichheit im Tod entspricht. Leider leben wir aber eben in einer Zeit in der verlorene Werte (Funktionen) zu gerne durch leere Hüllen (Symbole) ersetzt werden sollen.

      Beste Grüße

  11. nadar says:

    Im Artikel steht unter anderem:
    > so hatten die (wann eigentlich?) „nomadisierenden“ Juden

    Das “wann” sollte der man im Alten Testament problemlos herausfinden können:
    http://www.bibelwissenschaft.de/nc/wibilex/das-bibellexikon/details/quelle/WIBI/referenz/35070

    • yehuda says:

      Warum sollte man mit diesem Brauch erst im Mittelalter anfangen, wenn er aus der Zeit der biblischen Erzählung stammen sollte? Was war in der Zwischenzeit? Und warum kennen heutige Nomaden diesen Brauch immer noch nicht? Oder haben Sie andere Erkenntnisse?

  12. J. Miller (Birmingham/UK) says:

    Thank you SO much for the superb explanation I have been looking quite a while and which now has become explicit.

    Toda rabah !!!!

  13. Warum legt man kleine Steine auf jüdische Grabsteine?…

    Immer wieder taucht diese Frage in Mails auf und ich habe sie auch schon mehrfach beantwortet. Heute jedoch bin ich auf einen Artikel gestoßen, der das noch viel besser und ausführlicher erläutert. Ich bin dem Jüdischen historischen Verein Augsburg dan…

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