Ghetto oder Eruw?

July 18, 2007

Synagoge Ner Tamid

Ghetto oder Eruw?

Ein weit verbreitetes Missverständnis über das Leben der Juden im mittelalterlichen Europa und insbesondere in Deutschland betrifft das sog. jüdische Ghetto, in welchem Juden abgeschlossen inmitten einer Stadtgemeinde lebten. Dies wird in der Regel so gedeutet, dass auf diese Weise sie als gerade eben noch geduldete Fremdlinge den größten Teil ihres Daseins eingepfercht in engen Gassen hausten, ihre Zeit mit dem Backen von staubtrockenen Matzen oder Schächten verbrachten und sehnsüchtig darauf warteten, bis ein edler Christ bei ihnen an die Türe klopfte um einen natürlich überteuerten Kredit aufzunehmen, den er zinsfrei nicht bekommen konnte. Dieses Grundmuster wird natürlich bei toleranten Gemütern durchaus moderater gesehen und so manche Eigenschaft, die den Juden negativ anhaften soll, wird gerne „mit dem Ghetto“ entschuldigt, auch bei liberalen Juden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die häufiger davon sprachen, den Staub des Ghettos abschütteln zu wollen. Wie so vieles was mit der Wahrnehmung von Juden zu tun hat, ist aber auch der Begriff des Ghettos letztlich ein aus einem Missverständnis selbstständig gewordenes Klischee, das nur wegen der neuzeitlichen Aufbereitung des Begriffs durch die Nazis (Warschauer Ghetto, etc.) seine Wucht nicht verloren hat.

Der geläufigen Ansicht nach stammt der Begriff Ghetto aus Venedig und bezeichnete um das Jahr 1520 dort zunächst die im Stadtteil Cannaregio gelegene Gießerei. Manchmal wird dies sogar so aufgefasst, dass das Wort „Gießerei“ hieße, doch das wäre eindeutig die fonderia. Das Wort getto (im venezianischen Dialekt ghetto, das „h“ verhindert eine Aussprache als dschetto) bedeutet werfen, weshalb nun vermutet wurde, dass bei der Gießerei Abfälle (als „wegwerfen oder „Strahl“ gedeutet) entstanden und man deshalb das Gebiet drum herum so benannt haben soll, was jedoch nicht so recht überzeugt. Einer anderen Ableitung nach soll der Begriff jedoch von „borghetto“ stammen, was „kleines Dorf“ oder „Städtchen“ heißen sollte. Die Aussprache sei demnach durch, aus deutschen Gebieten zugewanderte, Juden entstanden, die das „g“ nicht als „dsch“ sprachen. Gelegentlich wurde gar versucht, den Begriff vom aramäischen גטא (gito) abzuleiten, was wie das hebräisch Äquivalent גט (get) eine Ehescheidungsurkunde bezeichnet. Der nachbiblische Begriff ist erst im späten zweiten Jahrhundert nach christlichem Kalender belegt, bezeichnet aber nirgends ein aus welchen Gründen auch immer abgetrenntes Wohngebiet, sondern ausschließlich die schriftlich verbriefte und damit rechtskräftige Scheidung durch das Rabbinatsgericht.  Denkbar wäre jedoch die Herkunft des ansonsten unklaren Begriffs aus dem aramäischen גיתא (geto), das ursprünglich eine Schafherde bezeichnet, dann im übertragenen Sinne eine „Menge“ und schließlich die Schafhürde. Vom Bedeutungshintergrund käme eine Hürde, Pferch oder Koppel funktional einem Ghetto recht nahe, da darin Schafe oder Pferde, etc. mittels Zäunen, Flechtwerk, etc. gesammelt werden. In einem Ghetto waren nun Juden in einem Gebiet konzentriert und als Wohnviertel der Juden in Venedig ist das Ghetto dann auch allgemein und sicher überliefert.

Mehr oder minder abgeschlossene Wohngebiete sind jedoch keine Erfindung der Venezianer.  Ummauerte oder sonst wie abtrennte Lebensbereiche mit Wohnräumen um Kirchen herum etwa bildeten Klöster. In ähnlicher Weise bemühten sich auch Juden um möglichst geschlossene Wohngebiete. Auf diese Weise entstanden mancherorts kleine Enklaven, „Judenviertel“, oft entlang einer Judengasse oder auf einer Seite daran anschließend, mitunter auch an einer Stadtmauer entlang (wie etwa im mittelalterlichen Nördlingen). Diese Gebiete waren entweder ummauert und hatten sodann auch eigene Zugangstore (Beispiel Prag) oder wurden zeitweilig mit Schnüren oder Ketten abgetrennt, um eine Durchfahrt zu verhindern (wie etwa in Augsburg). Der älteste Beleg für eine solche Einrichtung stammt aus Speyer aus dem Jahre 1084. Die Einrichtung abgeschlossener oder zumindest zusammenhängender und abschließbaren Siedlungsgebiete im Mittelalter stellte keineswegs eine herabwürdigende Ausgrenzung der Juden dar, sondern eine von ihnen selbst so gewünschte Einrichtung, die erforderlich war, um die diesbezüglichen Bestimmungen von Tora und Talmud für Schabbat und Festtage einhalten zu können. In der islamischen Welt, insbesondere in Marokko wäre ab dem 14. Jahrhundert die Entsprechung für eine möglichst geschlossene jüdische Siedlung ملاح (melach), was an der gleich geschriebene arabische Wort für „Salz“, das jedoch als „milch“ gesprochen wird erinnern soll. Hier stammt der Name aus der Stadt Fes und man vermutete nun, dass es nahe der Stadt ein Salzlager gegen haben könnte, um den Begriff zu erklären. Aber auch das scheint ein eher müßiger Versuch zu sein. Es soll uns hier genügen, festzustellen, dass es auch in der islamischen Welt ein Gegenstück zum Ghetto gab – freilich in der Regel ohne negative Konnotation in der Moderne – so wie das osteuropäische שטעטל (schtetel) , das Schtedtel.

Das jüdische Religionsgesetz kennt drei Arten eines Eruw. Zum einem wäre dies עירוב תבשילין (eruw tawschilin), der sich auf die Zubereitung von Speisen an Festtagen für einen direkt darauf folgenden Schabbat bezieht, zum anderen עירוב תחומין (eruw techomin), was sich darauf bezieht, dass man an Orten außerhalb der Grenze des eigenen Wohnorts zuvor zubereitete Speisen deponiert, um und sich weiter als das sonst geltende Limit von 2000 Ellen (ca. 1 Kilometer) laufen zu können, d.h. auf diese Weise die „Grenzen“ zu mischen. Schließlich wäre da ערוב חצרות (eruv chatzerot), die “Mischung der Höfe”. Mit letzterem ist kurz gefasst gemeint, dass man mehrere Höfe, bzw. Häuser mittels einer eigens zu diesem Zweck geschaffenen Absperrung als ein einziges Gebiet zusammen fasst. Der Sinn besteht darin, dass innerhalb des Hofes das Verbot an Schabbes etwas zu tragen nicht gilt. Um in diesem Sinne also am Festtag beispielsweise einen Topf mit Speisen von einem Haus in ein anderes zu tragen, bedarf es der Schaffung eines Eruws, d.h. eines geschlossenen Wohngebiets. Die Erfüllung des Gebots erleichtert die Erfüllung der Schabbesgebote in jüdischen Gemeinden. Einen Eruw zu schaffen, war deshalb immer ein Anliegen jüdischer Gemeinden und nichts was ihnen von außen aufgezwungen werden musste.

In einer von Mauern umschlossenen Stadt, wie im oben zitierten Beispiel des mittelalterlichen Nördlingen, wo das jüdische Viertel sich an der Stadtmauer entlang befand, bedurfte es lediglich einiger weniger Vorrichtungen, um ein geschlossenes Gebiet zu schaffen, nämlich ein kleines Tor am Ausgang der Judengasse. In Augsburg befand sich das mittelalterliche Viertel der Juden entlang der Mauer der Königsburg südlich der Bischofsstadt (heute mit der Straßenbezeichnung Obstmarkt), konzentrierte sich aber in der darauf folgenden Judengasse (heute Karlstraße). Sämtliche Häuser zwischen Obstmarkt und Judengasse weisen große, geräumige Innenhöfe auf, die in der Zeit als das jüdische Viertel bestand durchgängig, d.h. miteinander verbunden waren. Dies erlaubte ein jüdisches Alltags und Festagsleben wie in einer kleinen Stadt, ungestört von der Außenwelt. Man kann also behaupten, dass die Bauanlage als solche als Eruw geplant und ausgeführt wurde. Zusätzlich dazu wurde, wie mehreren Zeugnissen zu entnehmen ist, die Judengasse zum Schabbes und an Festtagen abgesperrt.

Schwieriger verhielt es sich in Dörfern, die mangels Stadtmauer auf keine baulichen Voraussetzungen anknüpfen konnten, zumal wie in den mittelalterlichen Städten die Siedlungsgebieten nicht einheitlich waren. So kam es immer wieder mal vor, dass innerhalb eines von Juden stark dominierten Viertels auch einzelne Christen wohnten, während ab und zu auch Juden außerhalb des Eruws wohnten, weil sie es so wollten oder keine andere Möglichkeit bestand. Die (räumlich) naheliegenden Beispiele der Gemeinden von Kriegshaber, Steppach und Pfersee zeigen aber, dass die Siedlungen entsprechend angelegt wurden, um einen Eruw zu ermöglichen. In Pfersee wurde durch die nördlichen Abschnitte der Leitershofener Straße und der Brunnenbach ein geschlossenes Wohngebiet für die jüdische Gemeinde, das wieder über großräumige gemeinsame Innenhöfe verfügte, während sich außerhalb der dadurch entstandenen „Insel“ kleine landwirtschaftliche Nutzflächen befanden. In Steppach und Kriegshaber hingegen lag die jüdische Ansiedlung direkt zu beiden Seiten der Hauptstraße (die in Kriegshaber auch so hieß, heute: Ulmer Straße, in Steppach war dies die Alte Reichsstraße, die etwas südlich der Ulmer Landstraße verläuft). Die Häuser zu beiden Seiten der Straße verfügten wieder über Hinterhöfe, die miteinander verbunden waren. Auf diese Weise hätte man nun aber zwei getrennte Eruwim auf beiden Seiten der Hauptstraße geschaffen. Da man die Verkehrsstraße, die zugleich auch Handelsstraße zwischen Ulm und dem nahegelegenen Augsburg war, führte dies natürlich zu Konflikten. Die Ironie der Geschichte besteht hier jedoch darin, dass eigentlich nur Konflikte aktenkundig wurden, da die funktionierende Normalität keinen Anlass für Rechtsstreitereien und somit auch keine Urkunden „auslöste“. Aus dem Jahr 1721 ist ein solcher Streit aus Kriegshaber bekannt (anders formuliert: nur ein einziger diesbezüglich in über dreihundert Jahren!).  Damals waren die Schnüre zur Absperrung des Eruv noch auf Straßenniveau, d.h. so niedrig, dass ein auswärtiger christlicher Pfarrer, der zur Segnung eines sterbenden Christen in das jüdische Gebiet musste, gezwungen war, mit seinen Utensilien unter die Absperrung beugen musste. Es fand sich aber auch für Kriegshaber die Lösung, die auch heute noch in über 120 jüdischen Gemeinden außerhalb Israels entsprechend praktiziert wird. Um den Eruv zu schaffen, wurde nun keine Straßensperre mehr geschaffen, sondern auf hohen Masten wurden um das beabsichtigte Gebiet herum Seile oder auch Draht gespannt. Den Zweck der Kennzeichnung erfüllte auch das und weitere Probleme mit Christen gab es damit auch keine mehr. Lange vor elektrischen Leitungen besaßen jüdische Gemeinden an ihren Außengrenzen deshalb aber bereits recht hohe Absperrungen, die aus der Distanz nicht wesentlich anders aussahen als spätere Stromleitungen pder Telegraphenmasten (mit denen sie auf manchen älteren Photographien auch gerne mal verwechselt werden!) und deshalb auch niemanden stören.

Fast, denn mancherorts in den USA sind in den letzten Jahren Kontroversen über die Institution des Eruw entstanden, da zugegeben wenige Nichtjuden sich von der Idee eines Eruws in „ihrem“ Wohngebiet gestört fühlen. Das Vorhandensein eines Eruws verstoße nämlich gegen die Trennung von Staat und Religion im öffentlichen Raum.

Doch logisch ist das nicht, entsteht ein Raum doch erst durch eine Abgrenzung, oder nicht?

http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Eruv.jpg&filetimestamp=20060312223359

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